Rainer Bruno Zimmer

 

 

Das Gleichnis von der virtuellen Welt

 

Mit unserem Dasein ist es wie mit dem Spiel in einer virtuellen Welt.

Die Spieler selbst sind außerhalb der virtuellen Welt, ebenso die Erschaffer und Vorführer. Den Spielern begegnen die Inhalte der virtuellen Welt. Sie verstehen die Inhalte direkt und können daraufhin handeln oder sie dulden.

Die Spieler konzentrieren sich normalerweise so intensiv und ausdauernd auf die virtuelle Welt, dass sie ganz darin aufgehen. Sie identifizieren sich dann ausschließlich mit ihrer Spielfigur in der virtuellen Welt und ihrem Ergehen, und möchten gar nicht aufhören zu spielen. Ihre eigentliche Spielsituation "von außen" haben die Spieler dabei nicht im Blick.

Dass Spieler während des Spiels diesen Blick von außen auf die virtuelle Welt dennoch gewinnen, ist die Ausnahme. Es geschieht normalerweise nur, wenn sie von außen gerufen werden, oder wenn sie im Spiel scheitern: dann können sie "auf sich selbst zurückgeworfen" werden. Das geschieht aber selten, denn die virtuelle Welt "hat System", und diese Systematik ist intuitiv erschließbar und dann direkt zugänglich. Wenn man sie einmal verstanden hat, kann man normalerweise darauf vertrauen und scheitert nicht.

Ein Spieler kann den Blick "von außen" aber auch im Guten gewinnen, indem er es von sich aus schafft, aus dem Spiel in der virtuellen Welt aufzutauchen. Während des Spiels tut das aber so gut wie niemand. Sich gleichzeitig auf die Inhalte der virtuellen Welt und auf die Spielsituation außerhalb und gegenüber der virtuellen Welt zu konzentrieren, ist unmöglich.

 

Was in der echten Realität anders ist:

Um in der echten Welt zu spielen, brauchen die Spieler keine Geräte, keine Bildschirme, Lautsprecher, Kopfhörer, Mikrofone, keine Mäuse, Tastaturen, Joysticks, Bewegungs­sensoren, sondern alles in der Welt begegnet ihnen unmittelbar, und sie agieren direkt mit ihren Entschlüssen und Automatismen.

Die Wahrnehmung der Spieler in der echten Realität hat mehr Kanäle. Zusätzlich zu den Kanälen zur Außenwelt gibt es auch die zur körperlichen und zur mentalen Innenwelt. Neben den Sinneswahrnehmungen der Außenwelt gibt es die inneren Wahrnehmungen der Haltung und Bewegung des Körpers und der Körperteile, des körperlichen Wohlbefindens und Schmerzes, und schließlich die Wahrnehmungen der geistigen Innenwelt: der Gedanken, Einfälle, Denkprozeduren, Erinnerungen, der inneren Bilder, inneren Sprache, Gefühle, Stimmungen, Antriebe und Hemmungen, der Vorhaben und des Willens. All das nehmen wir wahr, es begegnet uns in der Welt.

Eine virtuelle Welt kann sehr reichhaltig sein, wenn sie von einer großen Mannschaft mit einem großen Budget entwickelt worden ist. Noch weitaus reicher kann eine virtuelle Welt sein, wenn sie so konzipiert ist, dass allen Spielern – es können Millionen sein – die Möglichkeit gegeben ist, innerhalb eines gewissen Rahmens jeweils eine Teilwelt selbst aufzubauen, und wenn sie weiterhin so konzipiert ist, dass jedem einzelnen Spieler alles begegnen kann, was die anderen Mitspieler aufgebaut haben, so dass er sie auch nachbauen und darauf weiter aufbauen kann. So eine Welt wächst permanent, und das ist in der echten Realität nicht anders.

Was in  der echten Realität anders ist, ist die Freiheit von Vorgaben. Es gibt keine Grenze, die man nicht überschreiten oder umgehen könnte, um dann entweder ein neues Stück Welt zu erschließen oder zu scheitern. Und so haben an der realen Welt Milliarden von Menschen – die ganze Menschheit – seit Jahrtausenden gebaut, und jeder Mensch konnte und kann daraus nach seiner Wahl Teile übernehmen, um an der eigenen Welt weiter zu bauen und damit auch die Welt aller ein wenig anzureichern oder gar einen größeren Schritt voran zu bringen. Die reale Welt begegnet uns dadurch als geradezu unendlich reich – ein  kostenloser Reichtum.

 

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