Rainer Bruno Zimmer

 

Unsere beste Ethik reicht nicht

 

 

 

Menschenwürde, Menschenrechte, Menschlichkeit, soziale Mindeststandards, organisierte und persönliche Hilfe: das sind Stichworte für die besten Ethik-Ausprägungen unserer Zeit. Sie sind über Jahrhunderte hart erkämpft worden, und wir schätzen und propagieren sie als wertvolle Errungenschaften. An ihrer weltweiten Akzeptanz und Durchsetzung mangelt es allerdings, und auch in anerkannten Rechtsstaaten bleiben Verhaltensweisen und Systeme unangefochten, die viele Menschen auf drastisch zurückbleibende bis unerträgliche Lebensmöglichkeiten einschränken oder sie sogar ihrer Existenz berauben.

Derlei sollte eine gute Ethik eigentlich nicht durchgehen lassen. Dass die obigen Missstände sich halten, geht auf einen grundlegenden Mangel unserer humanistischen, auf die Autonomie des Menschen fixierten, allgemeinen Ethik zurück. Dieser Mangel steht gegen einen Grundzug unseres Daseins, nämlich Leben zu mehren. Damit ist auch die Richtung klar, in der unsere allgemeine Ethik weiter zu entwickeln ist.

 

 

Um Ethik zu gestalten, muss man über das menschliche Dasein und die Welt Bescheid wissen. Aus der Daseinsphilosophie brauchen wir hier nur einen Ausschnitt, der mit wenigen Absätzen sichtbar zu machen ist. Es geht darum, dass unser Dasein so ausgelegt ist, dass wir die Möglichkeiten unseres Lebens in der Welt beständig erweitern und dass zu unserem Leben wesentlich auch die Möglichkeiten der Mitmenschen gehören.

 

Der Sinn des Daseins ist, Leben zu mehren

 

In unserem Dasein schreiten wir von Moment zu Moment durch die Zeit. In jedem Moment befinden wir uns in einer Situation, in der wir aufgrund der bisherigen Erfahrungen wissen, was wir tun können und was daraufhin im nächsten Moment sein wird, und wir entscheiden uns und handeln dementsprechend. Und dann kommt der nächste Moment, und wir werden bestätigt, oder er bringt etwas Unerwartetes. Diese Erfahrung ist unausweichlich, und sie beeinflusst das, was wir wissen und tun können. Unsere Lebensmöglichkeiten werden dadurch ein klein wenig gefestigt oder erweitert.

Über die vielen Momente unseres Lebens akkumuliert sich dabei ein kaum überschaubarer Zuwachs unserer Lebensmöglichkeiten. Das können wir leicht sehen, wenn wir zurückblicken: wir haben mit unseren Lebensmöglichkeiten praktisch bei Null angefangen, und heute verstehen wir eine riesige, komplexe Welt und können unser Leben darin führen, ohne unsere Möglichkeiten darin je vollständig beschreiben oder ausleben zu können.

Wie weit wir mit der Mehrung unseres Lebens kommen, hängt sehr von unseren Entscheidungen von Moment zu Moment ab, die wiederum von unserer Haltung bestimmt sind. Wir können grundsätzlich so handeln, wie es bei allen Menschen unserer Kultur schon je funktioniert, und dann wachsen unsere Lebensmöglichkeiten "nur" durch die Überraschungen, die uns das Schicksal im Kleinen oder Großen bereitet. Oder wir können grundsätzlich so handeln, wie wir es noch nicht erprobt haben, und dann machen wir meist neue Erfahrungen, und unsere Lebensmöglichkeiten wachsen gewollt.

Das gilt zunächst einmal für uns selbst und unsere Möglichkeiten. Mehrere Menschen zusammen haben natürlich ein größeres Erweiterungspotenzial als einzelne. Unsere Mitmenschen machen den größten variablen Teil unserer Welt aus und bieten damit die weitaus meisten Gelegenheiten, unsere Lebensmöglichkeiten zu mehren und zu wachsen. Unsere Erfahrungen mit den Mitmenschen wiederum sind umso reicher, je stärker ihre Lebensmöglichkeiten wachsen. Der produktivste Ansatz, unser Leben zu mehren, ist, das Leben der Mitmenschen zu mehren.

Wenn wir unser Leben oder das Leben unserer Mitmenschen nicht mehren, wo wir es könnten, dann meldet sich unser Gewissen und signalisiert Schuld: dass wir nämlich dem Leben etwas schuldig bleiben. Anders gesagt: Leben mehren ist gut, Leben nicht mehren ist schlecht – oder als Haltung: böse.

 

Bezüge in Philosophie und Religion

 

Diese Überlegungen sind nicht originell. In "Sein und Zeit" bestimmt Heidegger Schuldig-Sein als "Grund-Sein einer Nichtigkeit" – "Nichtigkeit" im Sinne eines Nicht-Seins –, und das heißt, dass wir Sein zu ermöglichen, Seinsmöglichkeiten zu mehren haben.

In der Bergpredigt proklamiert Jesus mit seinen "Ich aber sage Euch"-Lehren, dass man sich versöhnen soll, die Frauen nicht niederhalten, das Böse nicht bekämpfen, nicht zurückschlagen, den Feind als Gotteskind sehen und behandeln soll, zwei statt einer erbetenen Meile mitgehen, statt dem Rock auch den Mantel hergeben. Der gemeinsame Nenner ist, dass das gegenteilige Verhalten Leben nicht mehrt. Es geht dabei sicher nicht um Einzelvorschriften, aber auch nicht um ein ja nur punktuelles Ethos, sondern Jesus umreißt eine Daseinshaltung, die mit der fundamentalen Disposition des Daseins in Einklang steht, Leben zu mehren. In die gleiche Richtung geht sein Gleichnis von den Talenten.

Schließlich lässt schon das Alte Testament Gott sagen: "seid fruchtbar und mehret euch" und "macht euch die Erde untertan", und das heißt, dass unser Sein in der Welt so angelegt ist, dass wir Leben mehren, Welt erweitern und neue Welt erschließen, und dass wir uns dem letztlich nicht entziehen können. Der Turm zu Babel ist ein Bild für den Wesenzug des Menschen, seine Lebensmöglichkeiten zu erweitern, ja geradezu "aufzutürmen" – so weit, dass die Lebenstürme der Menschen sich auseinander entwickeln und die Menschen einander nicht mehr verstehen. Die Geschichte von Kain und Abel sagt erstens, dass wir sehr wohl der Lebensmehrer unseres Bruders sind, und zweitens, dass "Gott es anspricht", d.h. dass es ein Grundzug unseres Daseins ist.

Wenn wir das nun wissen, was folgt daraus für unser Sein in der Welt?

Ableiten lässt sich gar nichts. Aus dem Willen, Leben zu mehren, folgt nicht, welches Handeln oder Unterlassen in der Welt Leben mehrt, denn das hängt davon ab, wie unsere Welt ist, bzw. in der objektiven Welt: von den allgemein anerkannten Fakten und unserer Kenntnis dieser Fakten.

Wir möchten uns vielleicht wünschen, eine letztgültige Ethik der Mehrung des Lebens zu entwickeln, aber wir wissen schon von früheren Versuchen, dass sich Ethiken des Näheren nie so formulieren lassen, dass sie alle Situationen ohne schädliche Nebenwirkungen erfassen – was man hier mehrt, mindert man dort –, und dass die Fortschritte der Welt sie ständig veralten lassen. Der große Menschheitsgesetzgeber ist vom Wachstum unserer Welt längst abgehängt worden, genau so wie das Universalgenie. Mehr als das allgemeine Paradigma, Leben zu mehren, lässt sich nicht in die Welt übertragen.

Was man aber in Bezug auf die ethische Umsetzung in der Welt tun kann, ist zweierlei:

-        Man kann die Daseinshaltung einnehmen, dass man möglichst viel Leben mehren will, und sich dann zurechtlegen, was man in diesem Sinne tun und nicht tun wird.

-        Man kann aus dieser Daseinhaltung heraus in einem politischen Prozess vorsichtig und umsichtig Ethik weiter entwickeln.

 

Überlegungen zur Daseinshaltung

 

Dass unser Leben nur eingeschränkt oder gar nicht zu mehren ist, wenn wir nicht auch das Leben der Mitmenschen mehren, das widerstrebt uns. Jeder ist seines Glückes Schmied, denken wir, das muss man den Mitmenschen auch lassen, und das müssen sie auch uns lassen.

Natürlich halten wir diese Härte nicht durch, wenn es um unsere Verwandten, Freunde und ausgewählte andere Mitmenschen – unsere Eigengruppe – geht. Wir sind es sogar auch gewohnt, das Leben Fremder zu mehren, wenn wir Coach, Dienstleister, Helfer, Spender, Steuerzahler sind. Das Problem liegt nicht darin, dass wir keine Kompetenz dafür haben, sondern darin, wie wir unsere Eigengruppe definieren.

Von der Grundauslegung des Daseins her gehören sozusagen alle Menschen zu unserer Eigengruppe. Das heißt nicht, dass wir für alle oder einen großen Teil davon etwas leisten müssen, um ihr Leben zu mehren. Das geht in der Welt praktisch nicht. Aber es erlegt uns doch besondere Sorgfalt auf, wenn unsere Mittel, Leben zu mehren, groß sind oder unser Tun einen Preis hat, den andere bezahlen sollen.

Handlungen oder Unterlassungen können schiefgehen, auch solche, die Leben mehren sollen. Im Ergebnis kann Leben gemindert werden. Wenn wir trotzdem Leben gemehrt haben wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den entstandenen Schaden nicht nur wieder gut zu machen, sondern ihn zu überkompensieren. Davon befreit uns weder, dass wir das Gute gewollt haben, noch der Umstand, dass wir von dem Schadenseffekt vielleicht gar nicht erfahren. "Grund-Sein einer Nichtigkeit" ist ganz objektiv und unabhängig von unserem besten Wollen und Wissen. Wir sind haftbar.

Man hat meist mehr Möglichkeiten, Leben zu mehren, als man ausführen kann. Wenn man die einen ergreift, bleibt man die anderen schuldig. In diesem Sinne wird man immer schuldig. Schuld ist aber kein Instrument, um Menschen moralisch nieder zu halten, sondern eine Gegebenheit eines jeden Daseins. Wenn man darauf aus ist, Leben zu mehren, darf man sich nicht von Schuld aufhalten lassen. Schwelgen in Schuld mehrt kein Leben. Man muss aus Schuld lernen, besser Leben zu mehren. Ansonsten ist uns vergeben.

Das gilt auch für fremde Schuld gegenüber uns. Wenn wir uns auf die erlittene Lebensminderung fixieren, uns um Vergeltung bemühen, auf Rache sinnen, dann bindet das unsere Kapazität, die uns somit zur Mehrung von Leben fehlt. Wenn wir gar "erfolgreich" Rache nehmen, dann setzen wir die Minderung von Leben fort. Wenn wir Leben mehren wollen, dann bleibt uns nur, Minderungen zu ertragen und von der geminderten Lage ausgehend wieder weiter Leben zu mehren.

Die Autonomie setzt uns eine Grenze beim Mehren des Lebens der Anderen. Gegen ihren Willen kann man das Leben von Mitmenschen nicht mehren. Wenn sie in ihrem Leben auf der Stelle treten, kann man sie möglicherweise nicht einmal dazu motivieren, selbst ihr Leben zu mehren. Helfen muss man natürlich Menschen, deren Situation ihre Autonomie so einschränkt, dass sie kaum noch oder gar keine eigenen Optionen mehr haben, Leben zu mehren, insbesondere Menschen, die auch aus ihrer eigenen Sicht hilfsbedürftig sind.

Effektiv Leben mehren will gekonnt sein. Es erfordert Wissen und Handeln, die selbst erst gelernt und gemehrt werden müssen, bis man über sie als eigene Lebensmöglichkeiten sicher verfügt. Leben Mehren ist selbst eine zu mehrende Lebensmöglichkeit, bei der man natürlich viel von anderen abschauen und lernen kann, bei der es aber – wie sonst auch – Rückschläge geben kann, die man überwinden muss.

 

Überlegungen zur Ethik-Weiterentwicklung

 

Ethische Aussagen lassen sich nicht aus Grundzügen des Daseins ableiten, weil diese Grundzüge unabhängig von der Welt, absolut sind. Mit Absolutem lässt sich nun einmal nichts Relatives in Verbindung bringen. Auch Texte lassen sich in der Welt nicht als absolut, z.B. als göttlich, behaupten. Daher können solche Texte keine Ethik begründen.

Welches Tun oder Lassen Leben mehrt, hängt – wie schon gesagt – ganz von den Fakten in der Welt ab, von ihren Gegebenheiten und ihrer Zukunft. Deshalb muss man zum Entwurf ethischer Regeln das beste, neueste, relevante Wissen heranziehen. Und der Entwurf erfordert einen politischen Prozess, weil die Handlungen und Handlungsverzichte, die ethisch zu regeln sind, auf viele verschiedene Gruppen von Betroffenen wirken können, und dabei in jeweils unterschiedlicher Weise.

Die gängigen Ethikmodelle sind bezüglich der Mehrung des Lebens ein Totalausfall, und sie  bieten daher entsprechend reichlich Raum zur Weiterentwicklung. Sie sind sämtlich vorgeprägt von den Zehn Geboten, die lediglich vorschreiben, dass Leben nicht gemindert werde. Dies setzt sich fort in den Allgemeinen Menschenrechten, deren Bestimmungen sich ebenfalls darauf beschränken, Leben nicht zu mindern. Das reicht eindeutig nicht. – Dass die Menschenwürde als unantastbar gesehen wird, bewirkt zwar, dass die Autonomie der Menschen gewahrt wird, dass sie aber im Übrigen sich selbst überlassen werden. Das Prinzip der Menschenwürde lässt Verhalten ethisch unangefochten, das gegebenenfalls sehr viele Menschen beeinträchtigt oder schädigt. Als Ergänzung wäre notwendig, dass Betroffene immer in den Blick genommen werden müssen mit dem Ziel, ihnen Optionen zu verschaffen, ihr Leben zu mehren und so ihr Leben menschenwürdig auszuleben. – Auch die Nächstenliebe ist ein unzulängliches Prinzip, denn ihre pragmatische Einschränkung auf die Nächsten bestimmt die ethischen Fakten so, dass schon die Zweitnächsten, geschweige denn fernere Menschen, nicht einmal auch nur geschützt sind. Zusätzlich muss also Standard werden, dass wir alle Menschen, auf deren Leben wir irgendeinen Einfluss haben, als unter unserer Obhut sehen und die Mehrung ihres Lebens bedenken.

Flankierende Ideale und Paradigmen können zur Weiterentwicklung unserer allgemeinen Ethik beitragen, z.B. dass die Menschen einander lokal und global coachen sollten, oder dass Mächtige Gefahr laufen, ihr eigenes Leben auf Kosten anderer zu mindern.

Auch eine verbesserte Schuldkultur wäre anzustreben. Es gibt viel Spielraum für die Verstärkung und Verbreitung der Einsicht, dass Schuld unvermeidlich ist und dass Vergebung und Ertragen notwendig sind. Wenn man sich daraufhin mit mehr Schuld offener auseinanderzusetzen könnte, dann wäre auch mehr zu lernen, wie Leben mit weniger Nebenwirkungen gemehrt werden kann.

Auf lange Sicht braucht man nicht pessimistisch zu sein, denn das Dasein ist nun einmal auf Mehrung des Lebens hin ausgelegt, und die Mehrung funktioniert, wie man an den Fortschritten in der Welt ablesen kann, auch wenn sie ungleich verteilt sind. Die Frage ist trotzdem, wie geduldig wir weiterhin Lebensminderung erleben und miterleben wollen, bzw. ob und wie wir den Fortschritt der Lebensmöglichkeiten für alle möglicherweise beschleunigen könnten. Dazu wäre erst einmal überhaupt die Einsicht zu etablieren, dass es der Sinn des Daseins ist, Leben zu mehren.

 

 

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