Rainer Bruno Zimmer

 

 

Religiöse Autonomie heute

– Von der Unmündigkeit des Christenmenschen –

 

Wer selig werden will, der kann das sofort, in dieser Welt, ohne sich zu verbiegen.
Von organisierter Religion ist dafür keine Hilfe zu erwarten.
Wer aber wirklich in das "Reich Gottes" will,
den kann kein Mensch, kein System, keine Lebenslage daran hindern.

 

 

 

Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt. Das sieht so aus, als habe er den Menschen ein Stück weit den Weg in Richtung religiöser Autonomie geebnet, denn spätestens seit der Verbreitung der Luther-Bibel sind die Deutschen im Prinzip nicht mehr darauf angewiesen, dass man ihnen sagt, was in der Bibel steht, sondern sie können selbst darin lesen und prüfen, was ihnen darüber gesagt wird. Heute gilt dies entsprechend für Menschen fast aller Sprachen.

Das Luther-Jubiläum im Jahr 2017 ist ein guter Anlass, einmal in den Blick zu nehmen, ob und wie weit dieser Weg weiter gegangen worden ist. Haben wir heute religiöse Autonomie, oder wenigstens mehr als damals? Und ist sie überhaupt ein Thema?

 

Grundsätzliches

Autonomie in Bezug auf eine Haltung heißt, dass man sie aus seinen eigenen Möglichkeiten heraus einnehmen kann, aus eigenem Wissen und Können. In Bezug auf die Religion, also auf die Bindung an Gott, bedeutet Autonomie dementsprechend, dass man seine Bindung an Gott aus eigenem Wissen und Können haben kann. Man kann sich selbst vor Gott bringen und vor ihm sein. Man ahnt schon: Das wird kaum gelebt, und es ist so gut wie kein Thema. Sehr wohl ein Thema ist zwar die Suche nach Gott, aber es berichtet so gut wie niemand, dass er oder sie Gott gefunden habe und wie man ihn findet. Christen werden vielleicht einwenden, sie glaubten, Gott in seinem Sohn Christus gefunden zu haben, aber das heißt ja: sie sehen sich nicht direkt vor Gott. Wenn Gott gesucht wird, dann sichtlich nicht effektiv.

An sich beinhaltet Autonomie weiterhin, dass man über seine Haltung frei entscheiden und sie auch zurücknehmen kann. Es ist klar, dass man keine Bindung an etwas haben kann, wenn man es nicht in irgendeiner Art und Weise wahrnehmen kann. Die Form unserer Bindung an Gott lässt sich als eine Art Sehen mit dem "inneren Auge" umschreiben. Und so, wie man sich nicht entscheidet, ob das, was man sieht, ein Auto ist – denn ein Auto sieht man einfach direkt – , so kann man sich auch nicht entscheiden, ob man Gott sieht. Entweder man kann Gott sehen oder nicht. Wenn man Gott einmal gesehen hat, dann kann man das nicht mehr zurück nehmen. Wenn man Gott nicht sehen kann, dann mag man autonom sein, aber nicht religiös autonom.

Bindung an Gott aus eigenem Wissen und Können: das heißt nicht, dass man sich diese Fähigkeit allein aus eigener Kraft erarbeiten muss. Andere Menschen können im Prinzip durchaus zur Erlangung beitragen, aber am Ende ist man in der eigenen Religion von keinem Menschen abhängig, sondern man kennt und sieht Gott selbst. Das ist nicht zu verwechseln mit religiösem Subjektivismus. Es ist nicht damit getan, sich irgendwie ein persönliches Schema von Religion zuzulegen und davon begeistert zu sein. Warnungen vor "Privatreligion" sind insoweit angebracht. Wer aber vor religiöser Autonomie warnt, der strebt offensichtlich religiöse Abhängigkeit an.

 

Bibelverständnis und Religionssysteme

Der Weg vom sprachlichen Zugang zu alten Bibeltexten –  oder anderen religiösen Referenztexten – bis zum Verständnis der Gottesbeziehung des Menschen kann allerdings weit sein. Es ist nicht einmal von vornherein sicher, dass dieses Verständnis aus den Texten extrahiert werden kann, und wenn: auf welche Weise und in welchem Umfang – schließlich wird es schon seit zwei Jahrtausenden versucht –; und es ist nicht offensichtlich, wie man weiterkommen könnte, sollten die Texte nicht zum Ziel führen. Es gibt dann zwar noch Hinweise, das Reich Gottes in einem selbst zu suchen oder in der Natur zu sehen, und es gibt Wege der Meditation. Aber diese Ansätze tragen eventuell nur ein Stück weit. Ein umfassendes Verständnis müsste sowohl diese Ansätze als auch die der Bibel und wohl noch manche weitere umfassen und integrieren können.

Der – durchaus hinterfragbare – Anspruch Luthers war allerdings, dass die Bibel allein schon alles sage, was zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott zu sagen ist, und dass die Rechtfertigung auch das Entscheidende an der Beziehung des Menschen zu Gott sei.

Wie steht es also heute mit dem Bibelverständnis? Die christlichen Glaubensgemeinschaf­ten haben aus der Bibel große Lehrsysteme über den einen Gott und sein Reich abgeleitet. Sie beanspruchen jeweils die Wahrheit, aber die Lehren gehen auseinander bis zum eindeutigen Widerspruch. Die Unterschiede werden gepflegt und betont, und damit grenzen sich die Religionsgemeinschaften bewusst voneinander ab. Und das gilt nicht nur für die Christenheit, sondern für alle abrahamitischen Religionen untereinander.

Nun ist es aber im Leben so: Wenn man viele einander widersprechende Aussagen über denselben Gegenstand vor sich hat, dann muss man vermuten, dass keine von ihnen wahr ist. Die Mitglieder der Religionsgemeinschaften macht es aber offenbar nicht stutzig, dass verschiedene "Wahrheiten" über Gott existieren. Wenn die Frage nach der "Wahrheit" Gottes über Jahrtausende hin nicht entschieden werden kann, dann kann sich das ein Laie auch nicht zutrauen, und es bleibt ihm kaum etwas Anderes übrig, als sich einer "Wahrheit" aus seinem Umfeld anzuschließen und mit zu schwimmen – und dann ist auch der Klärungsbedarf weg. Religiöse Autonomie sieht natürlich anders aus.

Die Religionsgemeinschaften sind große Systeme aus Hierarchien von Klerikern, aus Lehren auf der Basis von Referenztexten, die üblicherweise auch einen Gründer herausstellen, aus Geboten, Vorschriften, Formen, Bauten, Kunstwerken, Unterorganisationen, Fachreferaten, Verwaltungen, Bildungs- und Sozialeinrichtungen, Veranstaltungen, Laien, und das alles mit den jeweiligen inneren Strukturen, äußeren Beziehungen, Zielen und Historien. Die Entscheidungen über die Lehre liegen allein bei den Klerikern. Die Theologen sind ihre Fachleute, die wissen, was in den letzten zig Jahrhunderten zu der jeweiligen "Wahrheit" Gottes geschrieben worden ist.

In solch einem System kann man sich ein Leben lang bewegen, ohne auf Gott zu treffen. Es führt unvermeidlich dazu, sich in ihm zu verlieren und damit die Suche nach Gott und die Führung zu Gott zu vergessen.

 

Religiöse "Wahrheiten" und die Vernunft

Als Laien-Mitglied muss man nehmen, was einem das System bietet. Sehen wir uns einige der christlichen Aussagen um die "Wahrheit" Gottes an – Vergleichbares zeigen auch andere verbreitete Religionslehren. Ihr übergreifender Anspruch ist, dass sie höhere Wahrheiten sind und innerweltlichen Wahrheiten vorgehen und sie gegebenenfalls aufheben.

Jeder weiß, dass kein Mensch von einer Jungfrau geboren wird, dass kein Mensch vom Tode aufersteht, dass kein Mensch Abweichungen von den Naturgesetzen erzwingen kann, oder dass eine bestimmte Lehre nicht zu recht für wahr gehalten werden kann, wenn viele abweichende und widersprechende Alternativen etabliert sind und die Kontroverse nicht gelöst ist. Um der "Wahrheit" Gottes näher zu kommen, soll man anscheinend seine eigene, bewährte Welterfahrung ein Stück weit aufgeben.

Man muss auch die Logik ein Stück weit aufgeben, denn aus einer Jungfrauengeburt folgt ja keineswegs die Göttlichkeit des Babys; mit einer Auferstehung kann man nicht die Göttlichkeit des Auferstandenen beweisen; und generell lässt sich aus Wundern eine besondere, göttliche Veranlassung logisch nicht herleiten, weil eine Koinzidenz nun einmal nicht dasselbe ist wie eine Kausalbeziehung.

Einen Anspruch auf Nachvollziehbarkeit kann man darüber hinaus ebenfalls vergessen: Wie ein Bittgebet wirksam sein kann; warum irgendein Sündencodex gültig sein soll; wie die Sündenvergebung für andere Menschen durch Jesu Tod funktionieren soll; was Ewigkeit mit unendlicher Zeit zu tun haben soll; wie die Auferstehung von den Toten näherhin ablaufen soll: für all das gibt es keine plausiblen Erklärungen, und Erklärungen werden üblicherweise auch nicht nachgefragt.

Schließlich sollte man auch eine zeitgemäße Ansprache eher nicht erwarten. Es herrscht die Auslegung alter Texte und Bilder, als ob es keine passenden aktuellen geben könnte. Man wird eingeladen, sich in ein, wenn auch wohlgehütetes Schaf, zu versetzen, also in ein fast jedermann fremdes, begrenzt intelligentes Herdentier. Es wird für unsere heutige dynamische Gesellschaft die Ethik einer statischen Gesellschaft propagiert, entwickelt in einer Zeit, als es die meisten heutigen Ethikfelder noch gar nicht gab. Gott wird als eine Art weiser und guter Herr oder König hingestellt, wie man sie längst nicht mehr kennt, und damit nicht nur als ungeeignetes Bild präsentiert, sondern als unbekannte und unzugängliche Figur, der man sogar noch unbedingt gehorchen muss. – Wenn man den Lehrern der Religion den Bezug auf die Bibel und die anderen Referenzschriften wegnähme, dann hätten sie nichts mehr zu sagen.

Eigene Welterfahrung, Logik, die Ansprüche auf Nachvollziehbarkeit und eine zeitgemäße Ansprache: das sind Aspekte der allgemeinen, persönlichen – wenn auch nicht der religiösen – Autonomie, die man also in diesen und Tausend anderen Fällen aufgeben soll, wenn man den Zugang zur Gottes-"Wahrheit" einer Religionsgemeinschaft finden will.

Dies reicht für viele Menschen, um sich abzuwenden, für Menschen, die sich vom christlichen Religionsangebot nicht ihre Vernunft abkaufen lassen wollen. Die christlichen Antworten darauf sind von der Art, dass man mit der Vernunft nicht an Gott herankommt, dass vieles nur in einem übertragenen Sinn gemeint ist, vieles als Legenden zu verstehen. Man wird darauf hinweisen, dass man etwas für sein Seelenheil tun muss, um sich nicht womöglich eine ewige Verdammnis einzuhandeln; dass die Gemeinschaft Geborgenheit und Liebe bietet. – Das reicht anscheinend für die Mitglieder, aber eben nicht für die, die sich abwenden; denen sich der Sinn nicht überträgt; bei denen die Legenden keine Resonanz erzeugen; die ewige Verdammnis als leere Drohung erkennen; und die Geborgenheit und Liebe selber finden.

 

Aussagen über Gott

Doch betrachten wir weiter christliche Aussagen zur "Wahrheit" Gottes, und zwar jetzt direkt über Gott. Gängig sind Aussagen, dass Gott groß sei, oder der höchste, allmächtig, gnädig oder zu fürchten; dass Gott der Urheber von Geboten und Verboten sei, und dass bestimmte Texte direkt von ihm inspiriert seien; dass Gott einen Willen habe, das Böse in der Welt aber zulasse, und dass er auch strafe; schließlich – für die Christen herausragend wichtig – dass Gott einen einzigen Sohn habe, ihn in die Welt geschickt habe, usw.

Die christlichen, wie auch die anderen abrahamitischen Glaubensgemeinschaften verkünden zwar einmütig, dass Gott nicht zu begreifen ist, aber sie machen trotzdem alle möglichen Aussagen über ihn, so als sei es nicht Gott, der nicht zu begreifen ist, sondern nur manchmal seine Ratschlüsse und Handlungen. Sie verkünden, dass Gott nicht von dieser Welt ist, aber sie machen trotzdem Aussagen über ihn, so als sei unsere Möglichkeit, etwas begrifflich zu fassen und begriffliche Aussagen darüber zu machen, nicht auf die Welt beschränkt. Sie verkünden, dass Gott absolut ist, aber sie machen trotzdem Aussagen über ihn, so als könnte man das Absolute doch, wie es Aussagen ja nun mal tun, in vielerlei faktische Beziehungen setzen, und das heißt doch: relativieren.

Wenn man glaubt, sich mit begrifflichen Aussagen auf den einen unbegrifflichen, außerweltlichen, absoluten Gott beziehen zu können, unterliegt man einem Wahn, wie es auch das Zweite Gebot schon lange weiß. Und wenn man versucht, die Gottesbindung des Menschen mit begrifflichen Aussagen zu erfassen und dazu die religiösen Inhalte der Bibel als Aussagen liest – das tut N.B. auch die historisch-kritische Methode –, dann versteht man weder das Eine noch das Andere.

Es ist nun, wie schon angesprochen, keine neue Idee, dass man die Bibelinhalte eben nicht als Aussagen nehmen darf, sondern als "symbolisch gemeint"; als Legenden; wie Märchen; als Texte, an die man nur da herankommt, wo sie im eigenen Leben eine Resonanz zeigen. Das führt eventuell weiter, wenn sich einem die Symbolik erschließt, aber sobald man an den Text trotzdem logische oder praktische Ableitungen anknüpft, z.B. Folgerungen daraus zieht oder Begründungen dafür liefert, dann hat man ihn schon wieder als ein Gebilde aus begrifflichen Aussagen genommen und den übertragenen Sinn zunichte gemacht.

Die Zehn Gebote kann man für richtig halten, man kann über sie meditieren und sie als fundamental verstehen. Sagt man aber, sie seien von Gott, und deshalb zu befolgen, und wenn man gegen sie verstoße, handle man gegen Gottes Willen, müsse seine Strafe fürchten und könne nur auf seine Gnade hoffen, dann ist man schon auf der Ebene der Begriffslogik, und von dem unbegrifflichen, außerweltlichen, absoluten Gott ist nicht mehr die Rede.

Die Figur "Sohn Gottes" ist ein treffendes und höchst wertvolles Bild für das Göttliche am Menschen. Wenn man aber diese Göttlichkeit exklusiv auf einen einzigen Menschen, Jesus Christus, projiziert,  dann spricht man sie allen anderen Menschen ab. Und wenn man gar sagt, Jesus Christus sei der einzige Sohn Gottes, "gesalbt", d.h. mit der speziellen Vollmacht Gottes versehen, demnach unser Herr, dem wir deshalb wie Gott gehorchen müssen, insbesondere seinen Befehlen, die er laut Neuem Testament erteilt hat usw., dann sind das alles innerweltliche Wahrheit beanspruchende Aussagen, und solche Aussagen können mit dem unbegrifflichen, außerweltlichen, absoluten Gott prinzipiell nichts zu tun haben. Sie sind leeres Gerede.

Die monotheistischen Religionsgemeinschaften glauben, dass sie auf einem sicheren Fundament von Aussagen über Gott stehen, und hängen doch nur an einem begrifflichen, innerweltlichen, relativen "Aussagengott", d.h. an einer gedanklichen Fiktion. Mit jeder ihrer Aussagen über "Gott" verfehlen sie den absoluten Gott. Und niemand erhebt seine Stimme dagegen oder merkt es auch nur. Menschen halten es für genügend Bindung an Gott, wenn sie einer Gruppe angehören, die sich über einen Satz von Aussagen mit dem Wort "Gott" definiert.

Aber wenn Gott derart verfehlt wird, dann heißt das: niemand sieht, wie die Bibel auf Gott zeigt; niemand "versteht" den Gottesbezug der Bibel; niemand "sieht" Gott. Und dann ist es völlig sinnlos, auf dem Prinzip "Sola Scriptura" zu bestehen, darauf, dass die Bibel allein maßgeblich und hinreichend für unsere Beziehung zu Gott sei. Eine unverstandene Bibel nützt in dieser Hinsicht gar nichts.

 

Die Kultur der Gott-Vermeidung

Das Ganze hat allerdings System, und das System ist erfolgreich: Die religiösen Eliten führen Milliarden von Mitgliedern auf den Aussagengott hin, und Milliarden Mitglieder glauben seit Jahrtausenden auf diesen Aussagengott hin. Dass solch ein System Bestand hat, erfordert eine riesige Nachfrage. Das heißt, der eigentliche Gott wird nicht nur unversehens verfehlt, er will von allen dauerhaft sicher vermieden werden.

Die Vermutung liegt nahe, dass das auf einen menschlichen Wesenszug zurückzuführen sein könnte. Tatsächlich gibt es einen schon sehr alten Hinweis auf einen solchen Wesenszug der Gottvermeidung, nämlich in der Genesis: in der Episode, in der Adam und Eva sich vor Gott verstecken, weil sie erkennen, dass sie nackt sind. Das kann man so lesen, dass der Mensch es generell scheut, mit seinem nackten Dasein vor Gott zu stehen. Die Daseinsphilosophie beschreibt diesen Grundzug des Daseins neutral und emotionslos: Wir sind der Welt verfallen, wir lassen unsere Aufmerksamkeit derart lückenlos von der Welt in Anspruch nehmen, dass wir gar nichts davon wissen wollen, dass und wie man etwas Anderes – Außerweltliches – in den Blick nehmen könnte, und dass wir es deshalb auch nicht wissen, nicht können und nicht wollen

Gott verfehlen oder gar vermeiden: das ist Null religiöse Autonomie. Das ist völlige religiöse Unmündigkeit. Das ist notorische Ignoranz gegenüber der Lehre Jesu – wenn nicht Verrat an Jesus. Und das ist der Zustand heute, organisatorisch verfestigt über Jahrtausende der Vergangenheit und, so wie es aussieht, für weitere Jahrtausende oder auch alle Zukunft, denn er ist die naheliegende – wenn auch nicht zwingende –Ausprägung eines Grundzugs des menschlichen Daseins, und der ist absolut unabänderlich. Alle tanzen immer um das Goldene Kalb, heute nicht mehr aus Gold sondern aus Aussagen. Und so gehen sie unbeirrt fehl.

 

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Utopischer Nachtrag

Genau betrachtet, ist das Problem ja nicht, dass man gegen die hier wirksame, grundlegende Disposition des Daseins, nämlich die starke Anziehungskraft der Welt, überhaupt nicht ankommen könnte. Zwar kann man sich der Welt völlig hingeben, aber man kann von ihr auch auf sich selbst zurück geworfen werden, und man kann auch von sich aus zu ihr auf Abstand gehen. Das Problem ist, dass alle dies negativ belegen, scheuen oder sogar fürchten, und einander darin bestärken. Der Einzelne muss das aber trotzdem nicht mitmachen.

Grundsätzlich ist jeder frei, Gott in den Blick bekommen zu wollen, und grundsätzlich kann jeder diesen Blick auch wirklich zeitweise erreichen und ihn dann immer wieder auffrischen (wie es das Dritte Gebot rät). Vor allem lohnt es. Man bekommt damit sein ganzes Dasein vor Gott in den Blick. Man sieht dann, wie das Dasein angelegt ist und wie man sich am besten dazu stellt – insbesondere auch zermürbende Fehlhaltungen vermeidet –, man erkennt den Sinn des Daseins, und merkt, dass man sein "Daseins-Spiel" die ganze Zeit zu bestehen versucht hat, ohne den Sinn und die Spielregeln zu kennen. Und man sieht selbst, dass da nichts zu scheuen oder fürchten ist, sondern dass die ganze Daseinssituation außerordentlich gut ist und man froh darüber sein kann.

Aber so gut wie niemand schafft es in diesen Zustand, und wer es schafft, der sei gewarnt: Er ist allein, und allein ist es aussichtslos und gefährlich, religiöse Autonomie gegen die allseits etablierte Gottvermeidung der Allgemeinheit verfechten zu wollen. Man muss es sozusagen Gott überlassen, ihr die Augen zu öffnen.

Vielleicht findet sich trotzdem irgendwann ein neuer Luther, der die Menschen einen weiteren Schritt voranbringt – der z.B. mit aller Klugheit und Vorsicht vielen beibringt, dass es keine Wahrheiten über Gott geben kann, dass man aber Gott wahrnehmen kann. Damit würde allen sichtbar, dass der sogenannte religiöse Fundamentalismus gar kein Fundament hat. Die Christen müssten zwar auch eine Menge Aussagen über Gott aufgeben, aber vor allem die Lehre Jesu bliebe ihnen erhalten, und die Christologie könnten sie dahingehend neu lesen – "Relectures" sind ja in Mode –, dass Aussagen über Christus so zu verstehen sind, dass sie auf das "gottebenbildliche" Eigentliche Selbst des Menschen zeigen. Die Christologie würde damit aufgewertet. Sie gewänne ihre existenzielle Bedeutung und den Bezug zur Jesu Lehre zurück.

 

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