Rainer Bruno Zimmer

 

 

 

 

DER MEHRWERT

 

 

 

 

Eine existenzialkritische Antwort

auf das Buch:
Joseph Ratzinger  Benedikt XVI.,

"Jesus von Nazareth – Erster Teil"

 


 

 

 

 

 

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Version 04.1, unlektoriert, November 2009

 

 


INHALT

DER MEHRWERT.. 1

INHALT.. 3

EINLEITUNG.. 5

Das Motiv. 5

Die Kritikposition. 5

DAS VORWORT.. 8

EINFÜHRUNG: EIN ERSTER BLICK AUF DAS GEHEIMNIS JESU.. 12

1. KAPITEL:  DIE TAUFE JESU.. 17

2. KAPITEL:  DIE VERSUCHUNGEN JESU.. 20

Steine und Brot – Leben von Gottes Wort 21

Auf der Tempelzinne – Gott ist nicht ausprobierbar. 22

Die Reiche der Welt – frei wollen können wir nur vom Eigentlichen Selbst her. 24

3. KAPITEL:  DAS EVANGELIUM VOM REICH GOTTES. 25

4. KAPITEL:  DIE BERGPREDIGT.. 27

1  DIE SELIGPREISUNGEN.. 27

Seligkeit in Ratzingers Darstellung. 28

Innerweltliche Bestimmung der Seligkeit 29

Seligkeit im Sinne der Bergpredigt: Zugänge und Charakteristika. 30

Die Textqualität der Seligpreisungen. 32

2  DIE TORA DES MESSIAS. 33

5. KAPITEL:  DAS GEBET DES HERRN.. 37

Vater unser in den Himmeln. 38

Geheiligt werde dein Name. 39

Dein Reich komme. 40

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. 40

Unser tägliches Brot gib uns heute. 41

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben
haben. 42

Und führe uns nicht in Versuchung. 44

Sondern erlöse uns von dem Bösen. 44

Die Textqualität des Vaterunser. 45

Die Auslassungen. 46

6. KAPITEL:  DIE JÜNGER.. 49

7. KAPITEL:  DIE BOTSCHAFT DER GLEICHNISSE.. 52

1  WESEN UND ZIEL DER GLEICHNISSE.. 52

2  DREI GROSSE LUKANISCHE GLEICHNIS-ERZÄHLUNGEN.. 54

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. 54

Das Gleichnis von den zwei Brüdern und dem gütigen Vater. 54

Das Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus. 55

Zur Auswahl der Gleichnisse. 58

8. KAPITEL:  DIE GROSSEN JOHANNEISCHEN BILDER.. 59

1  EINFÜHRUNG: DIE JOHANNEISCHE FRAGE.. 59

2  DIE GROSSEN BILDER DES JOHANNES-EVANGELIUMS. 59

9. KAPITEL:  ZWEI WICHTIGE MARKIERUNGEN AUF DEM WEG JESU:       PETRUSBEKENNTNIS UND VERKLÄRUNG.. 63

1  PETRUSBEKENNTNIS. 63

2  DIE VERKLÄRUNG.. 66

10. KAPITEL:  SELBSTAUSSAGEN JESU.. 69

1  DER MENSCHENSOHN.. 69

2  DER SOHN.. 75

3  "ICH BIN ES". 79

ZUSAMMENFASSUNG DER KRITIK.. 83

Die Ausbeute an "Mehrwert". 83

Die Zwiespältigkeit der Christologie. 85

Das Persönlichkeitsbild Jesu.. 86

Ratzingers Schreibposition. 86

 


 

EINLEITUNG

 

Das Motiv

 

Warum noch eine Kritik, wo doch der erste Teil von Ratzingers Jesus-Buchs von verschiedenen Seiten bereits kompetent rezensiert und gewürdigt worden ist?

Ratzinger spricht in seinem Buch einen "Mehrwert" jenseits der Menschenworte an. Auch wenn er dabei vielleicht eine andere Art Mehrwert im Sinn hatte: überaus wertvollen Mehrwert in Form von existenziellen Sichten und Einsichten produziert er durchaus, nur bietet er ihn nicht an. Und nun liegt er sozusagen eingepackt auf dem Tisch. Irgendjemand muss ihn auspacken und den Menschen geben. Diese Kritik wird ihn soweit auspacken, dass man ihn hoffentlich gut sehen kann. Und es ist klar, dass das nicht bloß eine Rezension sein kann sondern auch zusätzliche Substanz dargestellt werden muss.

 

Die Kritikposition

 

Die hier angewandte Kritikposition könnte man existenzial-religiös nennen. Einfacher gesagt, geht sie von dem aus, was man als Mensch selbst und mit der Hilfe anderer über das Dasein und seine außerweltliche Bindung herausfinden und wissen kann. Das werden wir mitlaufend bei Bedarf darstellen, es geht aber nicht ohne einen gewissen Grundstock am Anfang.

Woraus besteht also unser Dasein? Es ist zunächst so etwas wie ein Film, der vor unseren Sinnen abläuft, aber nicht nur vor unseren Sinnen, denn unsere Gedanken und inneren Bilder kommen ja nicht über die Sinne sondern eher vor einer Art "innerem Auge". Überhaupt läuft der Film schon, bevor wir in unserem Leben etwas von Sinnen verstehen. Und es ist auch insofern nicht bloß ein Film, als wir darin aktiv sein können. Die beste Analogie, die wir heute für unsere reale Daseinssituation haben, ist die virtuelle Realität. Nur brauchen wir für die "reale Realität" des Daseins keine Bildschirme, Lautsprecher, Mikrofone, Joysticks, Sensoren-/Aktoren-Kleidung o.ä.; es geht alles direkt.

Beuten wir diese Analogie etwas aus: In der Spielsituation der virtuellen Realität haben wir es mit einer programmierten, virtuellen Welt zu tun, im Dasein mit unserer realen Welt. So wie der Spieler der virtuellen Realität sich außerhalb der virtuellen Welt befindet, so "spielen" wir in der Daseinssituation von außerhalb der Welt. Und so, wie die Schöpfer und Vorführer der virtuellen Welt nicht in der virtuellen Welt sind, so sind auch mögliche Schöpfer oder Vorführer der realen Welt nicht von dieser, unserer realen Welt.

Was begegnet uns eigentlich in der realen Welt? Allgemein könnte man antworten: Phänomene. Es ist nur so, dass wir sie immer schon gleich verstehen: Es begegnet uns nicht ein Phänomen, das wir als Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften klassifizieren, sondern uns begegnet das Buch vor uns, unmittelbar, begrifflich und unzweifelhaft. Und es begegnet uns kein bestimmter geschachtelter Programmablauf, den wir aus seinen Einzelheiten synthetisieren, sondern wir fahren mit dem Auto zur Tankstelle. Unsere Welt ist all das, was wir in diesem Sinne verstehen, d.h. "leben können". Und die Welt ist alles, was wir prinzipiell verstehen können.

Aus den letzten zwei Absätzen entnehmen wir zwei fundamentale Konsequenzen:

-          Unser Dasein hat eine außerweltliche Komponente.

-          Wir können das Außerweltliche nicht verstehen.

Die zweite Konsequenz ist analog dazu, dass die Spielfiguren im Computerspiel keine Ahnung von möglichen Gegebenheiten außerhalb ihrer virtuellen Welt haben. Da unser Verstehen begrifflich ist, bedeutet sie genau gesagt, dass das Außerweltliche kein Begriff ist, dass man deshalb keine Aussagen darüber machen kann, es nicht attributieren, es nicht mit Anderem in Beziehung setzen und ihm keine innere Struktur zusprechen kann. Es ist absolut. Deshalb steht das Außerweltliche in der obigen ersten Konsequenz auch im Singular, obwohl wir oberflächlich gesehen schon mindestens zwei identifiziert hatten: einen "live"-Produzenten und einen aktiven Betrachter des Daseinsfilms. Es kann aber höchstens von einem Absoluten die Rede sein. Was es bestenfalls zwei- oder mehrfach geben kann, sind verschiedene Sichten auf ein und dasselbe Außerweltliche.

Wenn das Außerweltliche nicht begrifflich ist: Kann man dann überhaupt darüber reden? Ja, nur eben nicht in begrifflichen Aussagen, sondern in "annähernd zeigender Rede" darauf hin, darüber oder darum herum. Wir haben zum Reden ja nur unsere üblichen Begriffe. Man muss also mit diesen Begriffen versuchen, irgendwie in die Nähe dessen zu zeigen, was in den Blick gebracht werden soll. Annähernd zeigende Rede hat immer das implizite Präfix "Es ist, wie wenn ...", und der Adressat muss versuchen, dieses Es in den Blick zu bekommen. Das funktioniert tatsächlich. Seit Jahrtausenden reden und schreiben Menschen in dieser Weise vom Außerweltlichen, und andere verstehen es.

Der Mehrwert annähernd zeigender Reden besteht also in etwas, das begrifflich nicht ausgesagt ist. Annähernd zeigende Reden, die das Dasein und das Außerweltliche in den Blick bringen, haben einen inhärenten Effekt: mit dem Blick richtet sich unsere Daseinshaltung optimal aus, so dass wir mit dem ganzen Dasein ins Reine kommen und im besten Falle selig sind.

Es ist offensichtlich, dass wir oben statt "das Außerweltliche" oder "das Absolute" ebenso "Gott" hätten schreiben können. Wir werden das im Folgenden nicht vermeiden, aber andererseits andere Bezeichnungen benutzen, wenn es uns darauf ankommt, bestimmte Aspekte zu betonen, eben z.B. die Außerweltlichkeit oder die Absolutheit.

Soweit der erste Anriss unserer Kritikposition. Sie ist selbst im Sinne einer annähernd zeigenden Rede zu lesen, ist also prinzipiell widerlegbar durch eine Rede, die unsere Daseinssituation besser zeigt. Eine begriffliche Begründung oder Widerlegung hätte keinen Sinn, da kein begrifflicher Anspruch besteht. Der einzige absolute Anspruch in dieser Position ist der, dass Gott sozusagen per definitionem absolut ist.


 

DAS VORWORT

 

Ratzinger beginnt bei den Büchern seiner Jugendzeit, in denen "das Bild Jesu Christi gezeichnet worden [war], wie er als Mensch auf Erden lebte, aber – ganz Mensch – doch zugleich Gott zu den Menschen trug, mit dem er als Sohn eins war. So wurde durch den Menschen Jesus Gott und von Gott her das Bild des rechten Menschen sichtbar".

Dieses Bild des Menschen Jesus sei durch die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung immer undeutlicher geworden, eingesprungen seien Autoren mit verschiedenen, subjektiven Rekonstruktionen, was insgesamt Misstrauen gegenüber jeglichem Jesus-Bild erzeugt habe. Womit "der eigentliche Bezugspunkt des Glaubens unsicher wird: die innere Freundschaft mit Jesus, auf die doch alles ankommt, droht ins Leere zu greifen".

Dieses Problem ist es, dessen Lösung Ratzinger vorantreiben möchte. Sein Ansatz ist eine Sicht auf "Jesus von seiner Gemeinschaft mit dem Vater her, die die eigentliche Mitte seiner Persönlichkeit ist, ohne die man nichts verstehen kann und von der her er uns auch heute gegenwärtig wird". Diese Sicht soll mit der kanonischen Exegese gewonnen werden. Dabei werden die einzelnen Texte nicht nur isoliert ausgelegt, sondern es werden weiträumig Auslegungen gesucht, die die bestmögliche Übereinstimmung mit dem Kontext der gesamten Bibel und ihren über die Jahrhunderte fortentwickelten Auslegungen liefern. Insbesondere den besagten "Rekonstruktionen" soll so eine logischere, historisch sinnvolle und stimmige Persönlichkeit Jesu gegenübergestellt werden.

Ratzinger führt dann näher aus, dass die oben zitierte Sicht auf "Jesus von seiner Gemeinschaft mit dem Vater her" eine Sicht von Jesus Christus her ist, und dass er die "christologische Hermeneutik" anwenden wird, "die in Jesus Christus den Schlüssel des Ganzen sieht und von ihm her die Bibel als Einheit verstehen lernt". Ratzinger sieht als notwendige Voraussetzung für diese Sicht einen historisch vernünftigen "Glaubensentscheid". Die Kreuzigung und die gewaltige Wirkung Jesu – u.a. eine voll entfaltete Christologie schon nach 20 Jahren –  seien historisch am plausibelsten zu erklären, "wenn Außergewöhnliches geschehen war, wenn die Gestalt und Worte das Durchschnittliche aller Hoffnungen und Erwartungen radikal überschritten" und wenn "das Große am Anfang steht und ... die Gestalt Jesu in der Tat alle verfügbaren Kategorien sprengte und sich nur vom Geheimnis Gottes her verstehen ließ".

Ratzinger übernimmt die Darstellung der frühen Christologie, dass "[Jesus] Gott gleich war, aber sich entäußerte, Mensch wurde, sich erniedrigte bis zum Tod am Kreuz, und dass ihm nun die kosmische Huldigung, die Anbetung zukommt, die Gott beim Propheten Jesaja als ihm allein gebührend ankündigte".

Wir wollen natürlich Ratzingers Vorwort so nehmen, wie es gemeint ist: als eine offene und verständliche Darlegung der Zielsetzung, Ausgangsposition und Methode seines Jesus-Werks.

Aber wir müssen doch festhalten: Das letzte Zitat ist keinesfalls per Glaubensentscheid zugänglich, sondern nichtig, mit allen Folgen. Wir haben oben festgestellt: Gott ist absolut, nicht begrifflich. Gott kann man nicht mit irgendetwas in Relation bringen, speziell mit nichts Innerweltlichem. Über Gott kann man keine Aussagen machen, insbesondere also auch keine Aussagen der Art, dass ein innerweltlicher Jesus Gott gleich war, dass Gott sich entäußerte, oder dass Gott bei einem Propheten etwas ankündigte. Oder – was ja auch wesentlich Gegenstand der Christologie ist –, dass Jesus der einzige Sohn Gottes sei.

Wir lassen das hier erst einmal so stehen, es gibt später viele Anlässe darauf zurück zu kommen. Ein paar weitere Bemerkungen zu den Überlegungen des Vorworts sind trotzdem noch angebracht.

Das zwei Jahrtausende währende Rätseln und Ringen um die richtige Auslegung der Bibel könnte auch damit zusammenhängen, dass man überhaupt versucht sie auszulegen, und dass viele Inhalte bereits Auslegungen sind. Wenn man einen Fachartikel verstehen will, dann ist es ja auch nicht angemessen, sich nur mit Wortwissen zu rüsten, zu schauen, wo und wie ein Wort überall vorkommt, und auf dieser Basis eine Auslegung zu versuchen. Ohne einschlägige Fachkompetenz geht es nun einmal nicht. Um welches "Fach" geht es Jesus? Um Gott, uns selbst, die Anderen, das Sein in der Welt, d.h. die benötigte Kompetenz ist existenzielle Kompetenz.

Existenzielle Kompetenz ist sehr selten, weil unerwünscht bis angefeindet. Dass Jesus hingerichtet wurde, wie auch die Integration der jesuanischen Lehre in die Christologie lassen sich leicht aus innerweltlichen Zusammenhängen erklären. Es ist ein bekannter Grundzug der Menschen, dass sie Existenzfragen scheuen, den offenen Blick auf ihr Dasein meiden. Nicht-Wollen und Nicht-Können gehen hier Hand in Hand. Große religiöse Organisationen müssen dem Rechnung tragen. Sie dürfen die Menschen nicht direkt mit Gott konfrontieren, ja sie müssen Gott sogar sicher gegen unvorbereitete Blicke verhüllen. Jesus verstieß radikal dagegen, indem er aus Begeisterung und Pflichtgefühl jedermann effektiv die direkte Sicht auf Gott zeigte, und er bezahlte es mit dem Tode, obwohl diese Sicht nicht zu fürchten sondern erlösend ist. Wenn jeder gemäß der Lehre Jesu eine eigene, direkte Beziehung zu seinem Gott-Vater aufgenommen hätte, wäre das dem damaligen religiösen System an die Existenz gegangen.

Jesu Lehre war aber auch nach seinem Tod nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die religiöse Welt fand eine außerordentlich geschickte Strategie mit seinem Erbe umzugehen, nämlich Jesus zu Christus zu überhöhen und alle Gottesbezüge auf ihn auszurichten.

Das heißt nun noch lange nicht, dass Jesu Lehre damit verloren wäre. Denn auch die Ausführenden waren sehr geschickt und sorgten dafür, dass die entsprechenden "Anpassungen" der Texte vielfach aufstoßen. Das, was Jesus in der Bergpredigt, in Gleichnissen und anderweitig als seine Lehre zugeschrieben ist, ist so trotz des christologischen Überbaus praktisch offen zugänglich, gilt zeitlos, und ist eine absolut tragfähige "Glaubensbasis". Die Sorge von Ratzinger, dass der christliche Glaube seine Basis verliert, wenn das gesicherte historische Faktenwissen über die Person Jesus sich als irgendwie zu schmal erweist, wird dem nicht gerecht, denn auch Jesu Lehre ist historisch und liefert, wenn man sie nur erst einmal als Existenz-Lehre versteht, ein breites und charakteristisches Persönlichkeitsprofil.

Wir hatten angekündigt, wir wollten den von Ratzinger gelieferten religiösen "Mehrwert" auspacken. Schon der oben als erstes zitierte, erste Absatz seines Vorworts liefert solchen Mehrwert, und wir können gleich vorführen, wie man ihn erschließt. Wir brauchen das Zitat nur von unserer Kritikposition her als annähernd zeigende Rede lesen:

Es ist, wie wenn Jesus Mensch und zugleich mit Gott eins war, und wie wenn er aus dieser Position heraus Gott in das Blickfeld der Menschen gerückt, und so ihre Daseinshaltung ausgerichtet hat.

Wir haben oben schon die Sicht entwickelt, dass jeder Mensch eine außerweltliche Komponente hat: den aktiven Betrachter seines Daseinsfilms. Um eine besser zeigende Rede zu verwenden: jeder Mensch hat ein göttliches Selbst. Es ist das eigentliche, absolute, authentische Selbst. Jesus hatte natürlich als Mensch so ein göttliches Eigentliches Selbst, und sein Ausdruck "Sohn Gottes" ist eine bildlich geniale und gut zeigende Formulierung dafür.

Dass wir trotzdem meist nicht wie Jesus "mit Gott eins" sind, liegt u.a. daran, dass wir Gott meiden und auch unser Eigentliches Selbst leicht aus dem Blick verlieren, wenn wir nichts dagegen tun. Die Analogie der virtuellen Realität trägt weiter: Wie in einem Computerspiel können wir ganz in der Welt aufgehen, uns in ihr verlieren, und dann merken wir es nicht einmal mehr, wenn wir etwas tun, was wir eigentlich gar nicht wollen. Jesus hat sich offensichtlich nicht so verloren, sondern seinen Blick auf das Außerweltliche gepflegt und gehalten.

Dieser eigene Blick ist Voraussetzung dafür, dass man auch anderen Menschen – mit mehr oder weniger geschickter, annähernd zeigender Rede – zeigen kann, wohin sie blicken müssen, um ggf. das Außerweltliche annähernd zu sehen. Und der Blick auf das Außerweltliche richtet uns, d.h. er richtet unsere Daseinshaltung aus.

Der Mehrwert besteht einfach in diesen Erkenntnissen, und darin, dass sie auf uns alle zutreffen. Die Erschließungsmethode für solchen Mehrwert funktioniert fast immer: Wenn von Jesus oder Christus die Rede ist, lohnt es immer, im Text diese Namen durch "mein Eigentliches Selbst" zu ersetzen, und zu sehen, welchen Sinn das Ergebnis zeigt: Meist ist es eine wertvolle, existenzielle Einsicht. Das entspricht übrigens ganz der Lehre Jesu: er hat uns alle aufgefordert ihm nachzufolgen, und das kann in einem existenziellen Sinne ja nur heißen: uns in ihn hinein zu versetzen, seine Daseinshaltung zu übernehmen, uns mit ihm zu identifizieren, bis wir sehen, dass wir ein göttliches Eigentliches Selbst haben wie er, und dass beide dasselbe Außerweltliche meinen. Es gibt ja nicht mehr als ein absolutes Außerweltliches.

Und so geht es eigentlich durch das ganze Jesus-Buch Ratzingers hindurch. Er wird in aller Breite und Tiefe die Plausibilitäten der Christologie herausarbeiten und konstruieren, und wir als Leser werden all seine Erkenntnisse für uns nutzen können und dafür meist nichts weiter tun müssen, als die christologische Hülle abzustreifen, indem wir die nichtige Aussage vom "einzigen Sohn Gottes" als annähernd zeigende Rede verstehen, die auf unser Eigentliches Selbst zeigt.


 

EINFÜHRUNG: EIN ERSTER BLICK AUF DAS GEHEIMNIS JESU

 

In dieser Einführung stellt Ratzinger zunächst Mose als in seinem Umfeld einzigartigen Propheten dar, weil er Gott, wenn auch mittelbar, gesehen und Israel aus dieser Position heraus im Exodus den Weg gewiesen hat. Jesus aber bringe den entscheidenden Fortschritt vom Alten zum Neuen Testament, als erster Prophet, der Mose in und wegen seiner Unmittelbarkeit zu Gott übertrifft, und aus dieser Position als Gottes Sohn heraus alle, die ihm nachfolgen, in dem eigentlichen "Exodus" zu Gott hin führt. –

Was ist ein Prophet? In unserem existenzial-religiösen Verständnis offenbar jemand, der etwas über das Außerweltliche und das Dasein weiß und es mitzuteilen versucht. Dieses Wissen kann man aus einer Begegnung mit dem Außerweltlichen haben oder, indem man das Außerweltliche durch Suchen annähernd in den Blick bekommen hat. Mitzuteilen versuchen kann man dieses Wissen in annähernd zeigender Rede. Da Propheten aus ihrem Wissen heraus auch die "Spielregeln" des Daseins kennen, liegt es nahe, dass sie vor den Folgen der Verletzung dieser Regeln warnen müssen und sich damit unbeliebt machen.

Kann man die Größe von Propheten vergleichen? Das Wissen um das Außerweltliche und das Dasein ist kein innerweltliches Wissen, also nicht groß oder klein, und die Begegnung mit dem Außerweltlichen ist ebenfalls nicht innerweltlich, sie sprengt gerade alles Innerweltliche. Einzig innerweltlich in diesem Zusammenhang ist der annähernde Blick auf das Außerweltliche – man erlebt z.B. eine innerweltliche Erlösung und ahnt dabei etwas von absoluter Erlösung –, aber die Wirkung ist im Wesentlichen auf den Blickenden beschränkt und nicht als "groß" geachtet. Größe könnte einzig in der möglichen Wirkung der annähernd zeigenden Rede liegen, wenn nämlich eine große Zahl von Menschen das Gezeigte selbst in den Blick bekommt. Nur dass fast alle Menschen genau dies nicht wollen und der Prophet deshalb auf verlorenem Posten steht. Größe wird Propheten daher immer post mortem zugeschrieben. Moses war demnach "groß", weil er Israel aus Ägypten geführt und ihm funktionierende Lebensregeln gegeben hat. Jesus war "groß", weil er eine Weltreligion gegründet hat.

Ratzinger hat einen anderen Maßstab. Bei ihm ist Jesus viel größer als Mose. Wie Jesus als Sohn vor dem Angesicht Gottes zu leben, das sei eine unmittelbarere Beziehung zu Gott als sie Mose gehabt habe, der nur mit Gott wie mit einem Freund sprach und nur den Rücken Gottes sah. Bei Jesus sei die innerste Einheit mit Gott verwirklicht, die bei Mose nur gebrochen galt. – Nur sind das wieder nichtige Aussagen. Schon die Idee, einem absoluten Gott verschiedene Relationen zu Innerweltlichem zuzuschreiben und diese dann auch noch zu vergleichen und zu bewerten, sollte einen eigentlich stutzig machen.

Es ist auch nicht, "wie wenn" Jesus näher an Gott war als Mose. Denn das "wie wenn" müsste ja im Prinzip jeder Mensch selbst sehen können. Mose werden eines oder mehrere direkte Gotteserlebnisse in der Einsamkeit am Sinai zugeschrieben. Jesus werden intensive Gebete mit Gott in der Zurückgezogenheit zugeschrieben. Aber innerweltliche Dinge, wie es Zuschreibungen, also Worte in einem Buch nun einmal sind, können keine Gottessohnschaft begründen. Geschichten erfinden ist leicht und Fabulieren eine große Kunst des Orients, kompetente Rede über das Dasein und das Außerweltliche dagegen ist zu allen Zeiten auf der ganzen Welt rar. Ob Mose und Jesus Religion hatten, d.h. eine Rückbindung an Gott, das wird man daher vor allem an den ihnen zugeschriebenen Reden erkennen können.

Da Mose von Ratzinger so relativ niedrig gehandelt wird, hier wenigstens ein paar Hinweise. Die Schöpfungsgeschichte ist voller höchst genialer, existenzieller Einsichten:

-          Die Welt wird dadurch geschaffen, dass Gott spricht, d.h. die Phänomene, die uns in unserem Daseinsfilm begegnen, sind artikuliert, so dass wir sie begrifflich unmittelbar verstehen können und alles so Verstandene unsere Welt ausmacht.

-          Alles von Gott Geschaffene ist gut, ausgenommen der Mensch.

-          Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, d.h. er hat eine außerweltliche Komponente, in unserer Redeweise: das authentische Eigentliche Selbst.

-          "Seid fruchtbar und mehret euch" und "macht euch die Erde untertan" heißt: Das Sein in der Welt ist so angelegt, dass man Leben mehren, Welt erweitern und neue Welt erschließen muss.

-          Mit der Erkenntnis von Gut und Böse – was Leben mehrt und was es nicht mehrt –, ist man für das Sein in der Welt gerüstet.

-          Adam und Eva, d.h. die Menschen, sind so angelegt, dass sie Gott meiden, da sie nicht mit ihrer nackten Existenz konfrontiert werden möchten.

-          Vor dem Paradies wachen Engel, d.h. der Mensch ist unausweichlich in die Welt geworfen, das Selbst entlässt ihn nicht zurück.

Das alles wird niemand erfinden können, der es nicht weiß. Mose – bzw. der Autor der Schöpfungsgeschichte – haben es gewusst, während auch heute die meisten Menschen weit davon entfernt sind, es zu verstehen.

Im Übrigen lässt sich auch leicht darlegen, dass die Zehn Gebote des Mose dieselbe Struktur haben wie das Liebesgebot Jesu, dass also auch hier Mose hier schon dasselbe existenzielle Wissen hatte wie Jesus.

Folgen wir weiter Ratzingers Gedankenführung.

Das Geheimnis Jesu sei hinter seinem zurückgezogenen Beten verborgen, dem "Reden des Sohnes mit dem Vater, in das das menschliche Bewusstsein und Wollen, die menschliche Seele Jesu hineingezogen wird, so dass menschliches 'Beten' Teilnahme an der Sohnesgemeinschaft mit dem Vater werden darf". Die Erlösung funktioniert dann so: Wer Jesus sieht, sieht den Vater, und wer mit Jesus mitgeht, wird dadurch mit ihm "in die Gottesgemeinschaft hineingezogen". Dies sei eine "Überschreitung der Schranken des Menschseins, die durch die Gottesebenbildlichkeit als Erwartung und als Möglichkeit im Menschen schon von der Schöpfung her angelegt ist". –

Beten als "Reden des Sohnes mit dem Vater" mag als religiöse Rede angehen. Aber wenn jemand mit seinem Vater redet, dann versteht er die Situation normalerweise ohne weiteres und braucht dafür keine nachgeschobenen Erklärungen. Dass da "menschliches Bewusstsein und Wollen" und "die menschliche Seele" hineingezogen werden sollen, ist eine befremdliche Reduzierung auf drei von hunderten von situationsbezogenen Faktoren in einer Vater-Sohn-Interaktion, und verspielt alle Klarheit der Darstellung. Schließlich wird der Sohn bis in die "Sohnesgemeinschaft mit dem Vater" hineingezogen. So ein Hineingezogen-Werden und so eine Sohnesgemeinschaft mit dem Vater gibt es nicht im Leben. Daher spricht so niemand, und wenn es jemand doch tut, dann versteht es niemand. Man könnte einwenden, es ginge um Gott und da sei die Dynamik dann eben anders als bei einem "normalen" Vater. Aber dann würde das Bild vom Sohn nichts taugen, und man brauchte ein anderes Bild.

Das alles weiß Ratzinger ja. Er weiß auch um die Technik des Morphens von Texten, bei der man einen Eingangstext in mehreren Stufen jeweils anscheinend unwesentlich modifiziert, bis man bei einem ganz anderen Sachverhalt anlangt, der dann als natürliche Konsequenz erscheinen soll. Das beginnt hier beim Reden des Sohns mit dem Vater, in der wie selbstverständlich Bewusstsein und Wollen, also offensichtlich die Seele mitspielen, bis bei entsprechender Intensität der Sohn praktisch in den Vater hinein-identifiziert ist. So etwas mag möglich sein, aber die Schlussfolgerung ist nun einmal nicht zwingend. Aus Reden oder intensivem Reden kann man nicht auf Identifikation schließen und nicht darauf, dass der Redende der Sohn des Angeredeten sei.

Man beachte: Jesus wird in die Sohnesgemeinschaft hineingezogen, der gewöhnliche Mensch in die Gottesgemeinschaft. Nicht dass jemand auf die Idee kommt, der gewöhnliche Mensch könne auch als Sohn Gottes gesehen werden. Gottes Sohn ist nur Jesus: davon hängt die ganze Christologie ab, mit ihr geht Ratzinger in das Buch hinein, und sie soll am Ende plausibel werden. Eines aber ist klar: die Plausibilität leidet, je mehr schreibtechnische Anstrengungen nötig sind, um sie herzustellen. Diese Anstrengungen sind nicht zu verheimlichen, sondern sie fallen gerade besonders auf – und sie sollen wohl auch auffallen.

So fällt weiterhin auch der Schlusssatz dieses Kapitels auf: "Und dies ist das eigentlich Erlösende: die Überschreitung der Schranken des Menschseins, die durch die Gottesebenbildlichkeit als Erwartung und als Möglichkeit im Menschen schon von der Schöpfung her angelegt ist". Wenn aber in der Schöpfungsgeschichte steht: "Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn", dann heißt das nun einmal: der Mensch ist Bild Gottes, Bild Gottes zu sein ist ein universelles Wesensmerkmal des Menschen. Wenn das ohne weiteres in eine Überschreitung oder in die Anlage einer Erwartung oder Möglichkeit einer Überschreitung umfunktioniert werden kann, wie soll dann Plausibilität entstehen?

Das mussten wir hier festhalten, denn wir gewinnen damit sozusagen Einsicht in die "Verpackungstechnik" im Sinne unserer Behauptung, dass der Mehrwert verpackt auf dem Tisch liegt. Wir werden später sehen, dass schreibtechnische Auffälligkeiten sich schon bei den Evangelisten finden und geradezu zum kunstgerechten Schreiben über Existenzielles in der Religion gehören.

Nun wieder zum Mehrwert selbst. Welcher existenzial-religiöse Wert steckt hinter Ratzingers Worten vom Beten als "Reden des Sohnes mit dem Vater, in das das menschliche Bewusstsein und Wollen, die menschliche Seele Jesu hineingezogen wird, so dass menschliches 'Beten' Teilnahme an der Sohnesgemeinschaft mit dem Vater werden darf"?

Eigentliches Beten ist der Versuch, den Selbstpunkt möglichst aus der Welt heraus zu ziehen, Eigentlichkeit zu gewinnen, möglichst zum Eigentlichen Selbst zu finden und unser Sein in der Welt von daher zu lenken. "Selbstpunkt" meint hier den Punkt, von dem aus wir wahrnehmen. Wir lokalisieren ihn meist in der Mitte hinter den Augen, können ihn aber auch woanders hin bewegen. Das Beten erfordert vor allem, dass man den Blick von den Inhalten der Welt weg bekommt. Je nachdem, wie das gelingt, reicht das Beten mehr oder weniger weit "zurück". Es wirkt ggf. ins Unbewusste, oder man bekommt mit noch größerem Abstand, wenn einem z.B. "eine Welt zusammengebrochen" ist, seine ganze, eigentliche Daseinssituation in den Blick. Dann bestimmt das Eigentliche Selbst unsere Haltung zur Welt neu.

Wenn wir also unsere Gottesebenbildlichkeit darin sehen, dass wir ein Eigentliches Selbst haben, das den von Gott "live" artikulierten Daseinsfilm wie ein Sohn als Geschenk empfängt, dann können wir das in Ratzingers Worten wieder finden. Bewusstsein ist ein innerweltliches Phänomen, ansonsten aber liefert es einen guten Näherungsausdruck für den Selbstpunkt. Das "Wollen" ist innerweltlich den Gesetzen der Welt, d.h. der Kausalität und dem Zufall unterworfen. Das Eigentliche Selbst dagegen ist gegenüber der Welt frei und kann durch seine Daseinshaltung einem eigentlichen Wollen Raum geben. Die Seele ist Gegenstand der Erfahrung, des Wissen, und des Handelns in der Welt, also eine rein innerweltliche Struktur. Das, was in Religionslehren als Seele bezeichnet wird, sozusagen eine unsterbliche, außerweltliche Komponente der Seele, grenzt man besser mit einem eigenen Ausdruck von der innerweltlichen Seele ab: als Eigentliches Selbst. Es ist das Göttliche am Menschen. Wie wir anfangs schon abgeleitet haben, ist es – genau wie der väterliche Schöpfer-Gott – eine von mehreren Sichten auf ein und dasselbe Außerweltliche. Die Ausdrücke "Sohnesgemeinschaft" und "Gottesgemeinschaft" führen kaum in die Nähe dieses Verständnisses, sind aber immerhin auf der richtigen Spur.

"Hineingezogen" werden wir vom Außerweltlichen sicher nicht, auch nicht bildlich. Unser Leben beginnt in der Welt, ohne Wissen vom Außerweltlichen. Ohne richtige Anleitung kommen wir schwerlich auf die Idee, dass es Sichten auf das Außerweltliche gibt. Und ohne hartnäckige, aktive Suche finden wir sie eher nicht. Sehr viel weiterbringen – wenn man so will: ziehen helfen – können gute, annähernd zeigende Reden von existenziell kompetenten Mitmenschen. Jesus war in dieser Hinsicht überragend, und wenn man gemäß seinen Reden von der innerweltlichen Eigendynamik freikommt und zur Eigentlichkeit findet, dann ist das gewiss eine Erlösung. Beim Beten müssen wir uns den Abstand zur Welt und den Weg zum Eigentlichen Selbst jedes Mal wieder neu erarbeiten, die Welt lässt einen nicht leicht los. –

 

Zusammenfassung:

Wenn wir unser Dasein verstehen und annähernd beschreiben wollen, dann findet sich bei Mose und Jesus reichlich bestes Material. Das hängt nicht davon ab, wie man sie als Propheten und als Gottes Gesprächspartner, Freund oder Sohn positioniert. Ratzinger schreibt zu Recht, dass Jesus als Gottes Sohn gelebt hat, und dass man ihn nur von daher richtig verstehen kann. Sein christologischer Versuch, Jesus als Gottes Sohn zu überhöhen, wirkt nur gewollt statt souverän überzeugend, liefert aber einige wertvolle, allerdings zu eng gefasste, weil exklusiv auf Jesus bezogene Reden. Wenn wie sie auf uns alle übertragen, zeigen sie recht treffend auf Aspekte unserer Daseinssituation, und sie zeigen umgekehrt Jesus als Menschen in derselben Daseinssituation wie wir selbst.

 


 

1. KAPITEL:  DIE TAUFE JESU

 

Ratzinger stellt das geschichtliche Umfeld, die Rolle Johannes des Täufers als Wegbereiter Jesu und den damaligen Sinn der Taufe dar und erörtert dann alles, was aus seiner Sicht die Taufe Jesu bedeutend macht.

Das beginnt bei der Frage, wie Jesus sich überhaupt von Johannes taufen lassen konnte, statt umgekehrt, und wo er sozusagen die Sünden für das zur Taufe gehörige Sünden­bekenntnis hernehmen sollte. Es geht weiter mit Erklärungen in der Richtung, dass Jesus die "Last der Schuld der ganzen Menschheit auf seine Schultern geladen" habe und den Jordan hinunter trug, dass die Taufe Jesu die "Todesannahme für die Sünden der Menschheit" sei, und die anschließende Taufstimme aus dem Himmel "Dies ist mein geliebter Sohn" ein "Vorverweis auf die Auferstehung".

Ratzinger erwägt, ob diese "Auslegung und Anverwandlung" zu weit gehe, findet aber nur Bestätigungen, vor allem in den Texten, die von Jesus reden als dem "Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt". Dieses Wort interpretiere "den kreuzestheologischen Charakter von Jesu Taufe, von seinem Hinabsteigen in die Tiefe des Todes".

Darin, dass nach Jesu Taufe der Himmel über ihm offen stand, er als Sohn proklamiert wurde und der Geist wie eine Taube über ihn kam, deute sich das "Geheimnis des trinitarischen Gottes" an und es reiche ein Bogen zur Taufe "im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes".

Jesu Taufe sei kein Berufungserlebnis: Jesus stehe "über unseren Psychologien". Er erscheine "nicht als ein genialer Mensch mit seinen Erschütterungen, seinem Scheitern und Gelingen, womit er als Individuum einer vergangenen Periode letztlich in einer unüberbrückbaren Distanz zu uns bliebe". Als "geliebter Sohn" könne er, "der so einerseits ganz Andere … gerade deshalb auch uns allen gleichzeitig werden …, einem jeden von uns innerlicher als wir uns selbst".

Für all das spendiert Ratzinger sechzehneinhalb Seiten und verpasst doch das Einzige, was am Bericht über Jesu Taufe wirklich für unsere Existenz bedeutsam ist. Identifizieren wir uns doch einmal so mit Jesus, wie in dem letzten Zitat des vorigen Absatzes angeboten, so innerlich wie mit uns selbst, genau im Moment nach seiner Taufe: Wir erhalten die Information, dass wir Gottes Sohn sind. In unserer obigen Diktion heißt das: Unser ganzes Daseins ist so, wie wenn wir geliebte Kinder des Schöpfers unseres Daseinsfilms wären und er das, was er uns darin begegnen lässt, elterlich liebevoll so gestaltet und dosiert, dass wir dadurch geführt, gefördert, gefordert, und aufgebaut werden. Und so haben wir auch unsere Mitmenschen zu sehen.

Diese Daseinshaltung einzunehmen und zu halten, zu leben wie ein geliebtes Kind Gottes, ist nicht einfach. Wir mühen uns, wir scheitern, wir leiden, wir sehen, dass es andere im Leben leichter und besser haben, und dann fühlen wir uns gar nicht liebevoll behandelt. Dass sie trotzdem richtig ist und funktioniert, brauchen wir aber nicht ungeprüft zu glauben, sondern wir brauchen nur den Blick auf unser eigenes Dasein lenken, um selbst zu sehen, wie klein wir angefangen haben, was wir – jeder nach seinem Maß – seitdem an Können erworben und was wir alles überstanden haben, wie wir an alledem gewachsen sind, und wie die Mitmenschen im Prinzip alle in derselben Lage sind.

An dieser Sicht hängt unsere Seligkeit. Und was macht Ratzinger? Er beschäftigt sich und die Leser mit Textbeziehungen und anderem.

Er projiziert einen Jesus, der sündenfrei war. Das wäre dann aber entgegen Ratzingers Anspruch kein Mensch gewesen. Es gibt ja zwei Begriffe von Sünde. Der eine bedeutet Entfernt-Sein von Gott. Das ist man in der Welt unweigerlich. Die Menschen sind nun einmal in die Welt geworfen und haben diese Situation zu bestehen, und dabei sind sie Gott fern, weil man sich nicht gleichzeitig auf die Welt und auf Gott konzentrieren kann – eben nicht zweier Herren Diener sein kann –, sondern nur abwechselnd. Der andere Begriff bezieht sich auf ein Tun oder Unterlassen, das eine Schuld begründet, das also Leben nicht mehrt oder Leben sogar mindert. Auch dem kann kein Mensch entgehen. Indem man in einem Fall Leben mehrt, bleiben immer gleichzeitig andere Chancen Leben zu mehren ungenutzt, also entsteht Schuld. Auch wenn Jesus einem Menschen hilft, hilft er gleichzeitig anderen Anwesenden nicht und akkumuliert so Schuld.

Mit Guardinis Ausdruck, dass Jesus "über unseren Psychologien" stehe, möchte Ratzinger sagen, ein Verständnis der Psyche Jesu erschließe ihn nicht ganz oder nicht das Wesentliche an ihm. Andererseits erhält man sicher kein taugliches Persönlichkeitsbild, wenn man die Psyche ausblendet. Das einzige, was über der Psyche steht, ist das, was überhaupt über der Welt steht, das Außerweltliche. Jesus nur auf sein göttliches Eigentliches Selbst zu reduzieren, vereitelt den Anspruch, Jesus als Mensch gewordenen Gott zu zeigen. Eine Ausblendung seiner Psyche würde ihn nur als Teil eines Menschen zeigen, zu dem Gott geworden sein soll. Betrachten wir das etwas praktischer: Es ist ziemlich offensichtlich, dass Jesus auf die Pharisäer und Schriftgelehrten wütend war. So etwas zeigt Profil, und wenn man eine stimmige Persönlichkeit Jesu zeichnen und dabei nichts versäumen will, dann geht man dem nach und klärt es auf.

Die übrigen Kernpunkte dieses Kapitels lassen sich kurz abhandeln:

Die Aussage, dass Jesus die Schuld der ganzen Menschheit auf seine Schultern geladen und durch sein Todesopfer getilgt haben soll, hat nur einen Sinn, wenn da jemand ist, der diese Schuld registriert und durch ein Opfer dazu bewegt werden kann, das Register zu löschen. Um es aber gleich klar zu sagen: Gott ist absolut. Ihm eine Schuldenverwaltung zuzuschreiben, ist eine anthropomorphe Relativierung und als solche nichtig.

Das Ein- und Auftauchen im Jordan ist an sich keine dramatische Angelegenheit. Entsprechend unplausibel sind Bezüge zum Hinabsteigen in das Reich des Todes und zur Auferstehung. Wenn Ratzinger generell in der Taufgeschichte kreuzestheologische und trinitarische Bezüge zu anderen biblischen Texten findet, dann ist das im Sinne der Christologie vielleicht stimmig. Nur hat es keinen Erkenntniswert. Das Neue Testament ist ohnehin auf Christologie hin angelegt und eine Auslegung von der Christologie her leistet höchstens die Vorführung der Voraussetzung als Ergebnis.


 

2. KAPITEL:  DIE VERSUCHUNGEN JESU

 

Ratzingers Suche nach Bedeutungen, mit denen man die Taufgeschichte christologisch aufladen kann, läuft auch noch in dieses Kapitel über. Hier schreibt er als erstes, das Herabsteigen des Geistes auf Jesus, mit dem die Taufszene endet, bedeute in Analogie zur Königssalbung "so etwas wie eine formelle Einsetzung in sein Amt". Dies kann allerdings nicht sein. Von einem innerweltlichen Amt Jesu wird im Neuen Testament nichts berichtet, und Reden von einem außerweltlichen Amt oder einer formellen Einsetzung durch Gott wären grundsätzlich nichtig.

Die drei Versuchungen sind Angebote des Teufels an Jesus, und Jesus lehnt sie jeweils ab:

1. Nachdem Jesus 40 Tage in der Wüste gefastet hat und hungrig ist:

Teufel:

Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.

Jesus:

Es steht geschrieben: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.

2. Auf der Zinne des Tempels:

Teufel:

Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.

Jesus:

Wiederum steht auch geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.

3. Auf einem sehr hohen Berg mit Blick auf "alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit":

Teufel:

Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.

Jesus:

Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.

Wir zeigen jeweils, dass dies existenzial-religiös höchst kompetente Texte sind, und betrachten anschließend, wie Ratzingers sie behandelt.

Der Teufel ist der (von Gott ab-) gefallene Engel. Engel sind die Boten Gottes und stehen immer für das Eigentliche Selbst. Fallen ist ein Existenzial des Daseins: Wenn wir nichts dagegen tun, nichts eigentlich wollen, dann verfallen wir automatisch der Welt und ihren Attraktionen und Spielregeln. Die Welt versucht uns, und der Teufel personifiziert diese Versuchung. Der gefallene Engel ist ein Bild für den Menschen, der sich nicht von seinem Eigentlichen Selbst in einer Daseinshaltung gegenüber der Welt halten lässt, sondern der Welt verfallen ist und sich – sein Eigentliches Selbst – in der Welt verloren hat. Aus dieser Lage kommen wir nur durch Bemühung wieder heraus. Das Eigentliche Selbst wieder zu finden, ist eine Konzentration erfordernde Arbeit, die wir oben als Beten identifiziert haben.

Wir können aber nicht gleichzeitig unser Eigentliches Selbst außerhalb der Welt suchen und in der Welt Leben zu mehren versuchen. Bestenfalls können wir uns angewöhnen, regelmäßig aus der Welt aufzutauchen, zu unserem Eigentlichen Selbst zurückzukehren und unsere Daseinshaltung von dort her zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Dies ist im Prinzip auch der Sinn des Dritten Gebots. Ratzinger berührt das gelegentlich mit dem Satz: "Der Abstieg Jesu 'in die Hölle' … gehört immerfort zu seinem Weg".

Die Legende von den drei Versuchungen Jesu präsentiert typische Versuchungen und, in Jesu Worten, den jeweiligen Aspekt unserer Daseinshaltung, der dagegen gefeit macht.

 

Steine und Brot – Leben von Gottes Wort

 

In der Welt gibt es Brot und vieles Andere, das wir zum Überleben brauchen und dann auch zum komfortablen Leben verfügbar haben wollen. Danach streben wir in der Welt. Das wäre jedoch sinnlos, wenn wir andererseits auf einmal keinen Boden mehr unter den Füßen hätten, oder das Licht in der Welt ausginge, oder der Sauerstoff. Und unser Leben wäre auch schon sehr gestört, wenn es kein Papier mehr gäbe oder kein Glas. Es gibt aber Boden und Licht und Sauerstoff und Papier und Glas in der Welt und unendlich viele andere Gegebenheiten, die unser Leben ausmachen. Wenn wir es recht besehen, macht alles, was uns im Daseinsfilm begegnet, unser Leben aus, und wir haben das so Begegnende als von uns unmittelbar verstandene, vom Schöpfer des Daseinsfilms "gesprochene", artikulierte Phänomene umschrieben. In diesem Sinne leben wir von einem jeden "Wort" Gottes. –

Ratzinger spricht den Hunger in der Welt an, um die Kraft und Nachhaltigkeit dieser Versuchung zu illustrieren, nicht zuletzt am Beispiel des gescheiterten Heilsversprechens des Marxismus. Er bleibt aber dann beim Stichwort "Brot", bespricht die Legende von der Speisung der Fünftausend, und leitet schließlich über zum "immerwährenden Brotwunder" in der Eucharistie der Kirche. Jesus sei darin "selbst Brot für uns geworden", und, wenn auch Ratzinger es an dieser Stelle nicht ausdrückt, impliziert er wohl, dass Jesus selbst das Wort Gottes sei, dass wir also von Jesus leben. Seine Auslegung endet mit den Worten: "… müssen wir … erkennen, dass wir nicht vom Brot allein leben, sondern zuallererst vom Gehorsam gegen Gottes Wort. Und erst wo dieser Gehorsam gelebt wird, wächst die Gesinnung, die auch Brot für alle zu schaffen vermag".

Ratzinger dringt also nicht bis zum existenziellen Verständnis der Versuchung vor, und versucht lieber Christus als Lebensquell aufzubauen, dem gehorsam zu sein uns immateriell und materiell ernähre. Er kommt auch nicht weg von der Auslegung, dass es das Wort Gottes gebe, dem man gehorchen müsse. Damit man einem Wort gehorchen kann, muss es in der Welt sein. Eine strukturelle Verbindung zwischen dem Außerweltlichen (Gott) und Innerweltlichem (Wort) kann es aber nicht geben. Jede Aussage über ein Wort Gottes in der Welt ist nichtig, in welcher Gestalt auch immer "Wort" gemeint ist, ob als textlicher Ausdruck oder als Mensch Jesus.

 

Auf der Tempelzinne – Gott ist nicht ausprobierbar

 

Unser Dasein ist so angelegt, und unser Gewissen sagt uns, dass wir Leben zu mehren und unsere Welt zu erweitern haben. Wir haben immer darauf hin zu arbeiten, dass wir etwas Neues erschließen, etwas – Kleines oder Großes – leben können, das wir bisher nicht leben konnten. Von einer hohen Tempelzinne springen zu können, ist ein nicht ungeeignetes Beispiel. Wenn wir es nicht können, dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir es doch können, ein Sprungtuch oder Netz, einen Gleitschirm, ein Bunjee-Seil. Der Plan, dass Gott einen auffinge, ist kein Plan, sondern eine nichtige begriffliche Konstruktion: Jede Aussage über Gott, z.B. dass Gott etwas tut, ist nichtig. Es ist nicht nur so, dass wir Gott nicht ausprobieren sollen, sondern es ist ein Daseinsgesetz, dass wir es nicht können.

Ratzinger kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, betont aber den Aspekt des Experiments, der im "versuchen" liegt. Es werde verlangt, dass Gott sich dem Experiment stelle. Er "muss sich den Bedingungen unterwerfen, die wir für unsere Gewissheit als nötig erklären. … Der Hochmut, der Gott zum Objekt machen und ihm unsere Laborbedingungen auflegen will, kann Gott nicht finden".

Ratzinger weiß es also: Gott zum Objekt zu machen ist in einem gewissen Sinne unmöglich. Er sagt zwar nicht, dass es "nichtig" sei, aber sein Urteil darüber ist doch eindeutig: "Weil wir … nur noch das Experimentierbare, das in unsere Hand gegeben ist, als wirklich anerkennen. Wer so denkt, macht sich selber zu Gott und erniedrigt damit nicht nur Gott, sondern die Welt und sich selber".

Aber Ratzinger zieht die Konsequenzen nicht. Jede Aussage über Gott versucht Gott zum Objekt dieser Aussage zu machen. Es funktioniert nur nicht. Wenn man trotzdem das Wort "Gott" in Aussagen einstellt, dann kann es sich eben nicht auf den absoluten außerweltlichen Gott beziehen, sondern allenfalls auf ein fiktives Objekt.

Nun könnte man postulieren, dass Gott über diesem Gesetz stehe, dass er selbst also Aussagen über sich machen könne, ohne sich zum Objekt zu machen. Aber dieses Postulat ist ja auch nur eine menschliche, begriffliche Konstruktion. Die Aussagen, dass Gott über dem Gesetz stehe, dass er Aussagen über sich machen könne, dass bestimmte, etwa von Propheten gemachte Aussagen von Gott selbst seien, sind Meta-Aussagen, also Aussagen über Aussagen. Auch Meta-Aussagen sind menschliche Aussagen. Wenn in ihnen das Wort "Gott" vorkommt, kann es ebenfalls nur ein fiktives Gott-Objekt bezeichnen.

Allerdings ist es so, dass durch häufige und systematische Aussagen dieser Art über längere Zeit hinweg dieses Gott-Objekt eine Eigengesetzlichkeit entwickeln und eine wieder erkennbare Gestalt annehmen kann. Jeder religiöse Text muss daher der Prüfung unterzogen werden, ob er wirklich mit Gott zu tun hat oder nur mit einem fiktiven Gott-Objekt. Und das erste Kriterium dafür ist, ob der Text der Absolutheit Gottes Rechnung trägt, ob er also Aussagen über Gott macht oder eine annähernd zeigende Rede versucht.

Dieses Kriterium gilt auch für die Texte der obigen Abschnitte dieser Kritik. Der Text, dass man keine Aussage über den absoluten Gott machen könne, sieht z.B. aus wie eine Meta-Aussage. Er kann aber keine Aussage sein. Entweder jemand sieht, worauf der Text zeigen will, oder der Text taugt nicht als annähernd zeigende Rede. –

Ratzingers Auslegung geht aber weiter. Er führt aus, dass der Sprung von der Tempelzinne Gott versucht hätte, der Gang Jesu in den Tod Gott aber nicht versucht. "… er ist in die Tiefe des Todes hinabgestiegen, in die Nacht der Verlassenheit, in die Ausgesetztheit der Wehrlosen. Er hat diesen Sprung gewagt als Akt der Liebe von Gott her für die Menschen. Und deshalb wusste er, dass er bei diesem Sprung zuletzt nur in die gütigen Hände des Vaters fallen konnte. … Wer dem Willen Gottes folgt, der weiß, dass er in allen Schrecknissen, die ihm widerfahren, einen letzten Schutz nicht verliert. … Solches Vertrauen … ist aber etwas ganz anderes als die abenteuerliche Herausforderung Gottes, die Gott zu unserem Knecht machen möchte".

Wir weisen nur noch einmal nebenbei darauf hin, dass ein "Gott", dem man einen Willen zuschreiben, den man herausfordern und zum Knecht machen kann, ein fiktives Gott-Objekt ist. Faktisch in den Tod zu gehen, weil es der Wille "Gottes" sei, und zu erwarten, dass das in einem innerweltlichen Sinne gut gehen werde, gar dass "Gott" einen wieder auferstehen ließe, ist niemandem anzuraten. Auf mehr als die Unterstützung des fiktiven Gott-Objekts kann man dabei nicht hoffen.

Ratzingers Text bleibt trotzdem existenziell relevant. Wenn wir ihn als annähernd zeigende Rede auf unser Dasein beziehen, dann beschreibt er Aspekte des Urvertrauens, das in uns angelegt ist. All unser Tun hat auch immer den Charakter des Sprungs ins Nichts. Wenn wir handeln, dann hoffen wir, dass das eintritt, was wir uns vorstellen. Wir haben aber keine Kontrolle darüber, was uns nach einem Handlungs- oder Nichthandlungsimpuls in unserem interaktiven Daseinsfilm begegnet. Wir verlassen uns darauf, dass das, was wir uns bereits erschlossen haben, weiterhin funktioniert, und dass das, was andere mit vergleichbaren Fähigkeiten in vergleichbarer Situation schon probiert haben, auch bei uns gut geht. Wir versuchen etwas nicht, wenn uns schon erschlossen ist, dass es nicht gut gehen kann. Bei gänzlich neuen Vorhaben planen wir sorgfältiger und für verschiedene mögliche Ausgänge, aber manchmal hängt es einfach daran, dass uns ein guter Ausgang geschenkt wird, und manchmal scheitern wir. Und dann stehen wir nach einer Zeit wieder auf und machen etwas Anderes weiter. Solange wir leben, sind wir fähig zu leben.

 


Die Reiche der Welt – frei wollen können wir nur vom Eigentlichen Selbst her

 

Wir können uns ganz auf die Welt einlassen und viel Energie darauf verwenden, uns alles Angenehme und Herrliche, oder auch immer nur die kleinen Vorteile, in ihr zu sichern und alles Unangenehme und Gefährliche auszuschließen. Die Vorstellung, dass wir dabei hinreichende Macht über alles, die volle Kontrolle bekommen, ist eine Illusion. Das, was uns im Daseinsfilm begegnet, können wir nicht bestimmen, bestenfalls teilweise vorhersagen. Und in der Welt sind wir ihren, d.h. unseren, Kausal- und Zufallsgesetzen unterworfen. Um dem zu entgehen, müssen wir betend zu unserem Eigentlichen Selbst finden, damit wir der Welt von dort her wollend gegenüber stehen können. –

Ratzinger kommt nach einigen Abstechern bei fast derselben Sicht an. Er hakt zunächst am Stichwort "Berg" ein, und stellt neben den Aussichtsberg auf die Reiche der Welt, einerseits den Berg, auf dem Jesus verkündet, dass ihm "alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben" sei, und andererseits den Berg Golgotha, auf dem Jesus gekreuzigt wurde, als Voraussetzung für seine Macht als Auferstandener, wie Ratzinger schreibt. Jesus biete – was nicht mehr in der dritten Versuchung steht – ein alternatives Reich zu den Reichen der Welt. Wenn die Menschen zu wählen haben, wählen sie das anscheinend Vernünftige: das weltliche Reich. Was muss demnach ein Heiland der Welt tun? Eine heile Welt bringen? Die Welt ist nicht besser geworden. Was hat Jesus also gebracht? Ratzingers Antwort lautet: "Er hat Gott gebracht: Nun kennen wir sein [zuvor nur "langsam" enthülltes] Antlitz, nun können wir ihn anrufen. Nun kennen wir den Weg, den wir als Menschen in dieser Welt zu nehmen haben". Das sei nicht wenig. Die Sache Gottes erweise sich als das eigentlich Beständige und Rettende. "Im Kampf gegen Satan hat Jesus gesiegt".

Erinnern wir uns an die Möglichkeit, "Jesus" durch "unser Eigentliches Selbst" zu ersetzen und verstehen wir "Satan" als die Versuchungen der Welt, die uns der Welt verfallen lassen, so heißt das: Unser Eigentliches Selbst ist immer frei gegenüber der Welt (siehe Ende vorletzter Absatz).

"Gott gebracht" kann heißen: Jesus hat uns gezeigt, wie wir Gott in den Blick bekommen können. Gott in den Blick bekommen wollen, müssen wir aber dann schon selbst. Ratzinger dürfte mit "gebracht" allerdings eher "in die Welt gebracht" meinen, in dem Sinne, dass Jesus als Gottes Sohn selbst Gott ist, und dass er so als Gott in die Welt gekommen ist und in seiner Gestalt ein menschlich fassbares Gesicht Gottes. Hierzu haben wir schon alles gesagt, sowohl dass das alles im Sinne von Aussagen nichtig ist, als auch, dass es auf uns Menschen bezogen heißt, dass wir mit einer außerweltlichen Komponente, unserem Eigentlichen Selbst in die Welt gekommen sind. –

 


 

3. KAPITEL:  DAS EVANGELIUM VOM REICH GOTTES

 

Jesus verkündet das Evangelium vom nahen Reich Gottes und fordert die Menschen auf, umzukehren und an das Evangelium zu glauben.

Ratzinger schafft als erstes die Interpretation: "Evangelium" gleich "gute Nachricht" in den Hintergrund. In den Vordergrund stellt er die Interpretation als hoheitliche, Fakten schaffende, "performative" Rede des wirklichen Herrn der Welt – also einen formalen Gesichtspunkt. Diese Betonung der Hoheitlichkeit hält er auch bei der inhaltlichen Betrachtung durch, die darauf hinausläuft, dass Christus selbst das Reich Gottes ist. Die Nähe des Reichs Gottes besteht dann in der Nähe Christi als Gottes Sohn und daher als Gott, und in seiner postulierten Präsenz durch die Geschichte hindurch.

Zwischendurch betrachtet Ratzinger andere Auffassungen vom Reich Gottes in der Kirchengeschichte: das Reich Gottes als innerlich im Menschen, das Reich Gottes als individuell zugänglich oder andererseits die Kirche als Reich Gottes, die Nähe des Reichs Gottes als kommendes Weltende, schließlich das säkularisierte Reich Gottes als heile Welt mit Frieden, Gerechtigkeit und Respekt vor der Schöpfung. Demgegenüber müsse das "Reich" Gottes richtiger als "Herrsein" und "Herrschaft" Gottes verstanden werden. Im Alten Testament sei diese Herrschaft Gottes Gegenstand von Prophezeiungen, für das Neue Testament schließt Ratzinger die zeitliche Interpretation als kommende Gottesherrschaft aus. Inhaltlich sei diese Gottesherrschaft geheimnisvoll und komplex, armselig, klein, angefochten, ein Schatz, für den man alles aufgibt, der Gewalt ausgesetzt. –

Was ist das Gute und Reiche an Jesu Verkündigung? Warum muss man umkehren? – Wenn etwas in Bezug auf unsere Existenz gut und reich ist, dann muss es absolut gut und reich sein, und also in der Welt nicht zu finden. Um es zu sehen, muss man aus der Welt auftauchen, umkehren zum Eigentlichen Selbst, wie wir es oben als Struktur des Betens beschrieben haben. Dann kommt in den Blick, wofür man in der Welt versunken kein Auge hat: unser Daseinsfilm ist das absolut Gute und Reiche. Und wenn denn "nahe Herrschaft" sein muss: unser Daseinsfilm ist die unausweichliche, unbeeinflussbare, absolute Artikulation, die uns so unmittelbar begegnet, dass es näher nicht geht. Aber an dieser "Herrschaft" ist nichts zu fürchten, sondern sie ist wie ein über alles gutes und reiches Geschenk.

Dasselbe kann man in biblischer Redeweise etwa so ausdrücken: Alles, was Gott uns im Leben gibt, ist gut und reich: gut, wie in der Schöpfungsgeschichte sechsmal gesagt, und reich, wie der wohlhabende Vater dem Sohn erklärt: "Alles was mein ist, ist dein". An Gott ist nichts zu fürchten, sondern bei ihm ist Seligkeit.

Wenn das nicht eine gute Nachricht ist! Es ist die gute Nachricht schlechthin. Sie ist der Schatz im Acker und die Perle, für die man alles aufgibt.

Ratzinger bringt diese gute Nachricht nicht. In einem Kapitel über das Evangelium darf sie eigentlich nicht fehlen, und auf siebzehn Buchseiten wäre genug Platz, sie den Menschen zu geben. Ihm ist es aber wichtiger, Hoheitlichkeit herauszuarbeiten und andere "Reichs"-Begriffe wegzudiskutieren, um zu dem Ergebnis hinzuführen, Jesus verkünde sich selbst als Reich Gottes und begründe damit die Christologie. Natürlich soll das eine gute Nachricht sein. Tatsächlich ist die gute Nachricht darin so tief versteckt, dass sie ohne existenzielle Kompetenz nicht zugänglich ist.

Streifen wir nach unserem obigen Rezept wieder die christologische Hülle davon ab und verallgemeinern den freigelegten Kern auf alle Menschen, so bleibt, wenn Jesus sich selbst als Reich Gottes verkündet, dass jeder Mensch – wie Jesus – ein ihn lenkendes, göttliches Eigentliches Selbst hat.

Das ist auch schon eine ziemlich gute Nachricht, aber selbst sie begründet immer noch nicht die frohe Gestimmtheit der Seligkeit: eine Art dauerhafte, berechtigte Euphorie des Wohlergehens, die daraus resultiert, dass Seligkeit eine perfekt ausgerichtete Daseinshaltung ist, in der einem das ganze Dasein als reich und gut vor Augen steht.


 

4. KAPITEL:  DIE BERGPREDIGT

 

Bevor Ratzinger auf den Inhalt selbst eingeht, positioniert er noch einmal Jesus als "den neuen Mose". Schon allein in dem Satz von Matthäus, dass Jesus sich setzte, sieht er einen Ausdruck für eine höhere Vollmacht – in der gleichen Situation bei Lukas "ist das Stehen Ausdruck der Hoheit und Vollmacht Jesu" –, und den Berg, an dem Jesus sich setzte, erklärt Ratzinger zum "Lehrstuhl". Er resümiert schon vorweg, dass die Bergpredigt "die neue Tora" sei, also sozusagen die Weiterführung der fünf Bücher Mose und ihrer Gebote und Verheißungen.

Die Bergpredigt ist eine in gewissem Sinne harte Rede. Um sie zu verstehen und sie in ein optimal ausgerichtetes Dasein umsetzen zu können, muss man sich von seiner Welt lösen, in Ratzingers Worten: "ohne einen Untergang des bloß Eigenen, gibt es keine Gottesgemeinschaft und keine Erlösung".

Anders als Ratzinger es nahe legt, ist das Eigene die jeweils eigene Welt des Menschen mit allem, was darin ist, einschließlich aller Gedankengebäude – einschließlich religiöser Lehrgebäude. Und das lässt sich nicht dadurch ändern, dass man gewisse Lehrinhalte, die ja innerweltliche Objekte sind, als nicht "eigen" sondern von Gott gesetzt erklärt. Eine solche Verwendung des Wortes "Gott" ist nichtig.

 

1  DIE SELIGPREISUNGEN

 

Das Wichtigste, was man über das Dasein sagen kann, ist, dass und wie man Seligkeit erlangen kann. Die Seligpreisungen sind damit auch das Wichtigste, was Jesus in seinen Verkündigungen zu bieten hat. Ein Mensch sucht Seligkeit, und hier sollte er finden.

Deshalb werden wir bei der Kritik dieses Kapitels nicht allgemein nach Textteilen suchen, aus denen irgendein existenzieller Mehrwert herauszuholen ist, sondern wir werden uns gezielt nur mit Äußerungen befassen, in denen Ratzinger Seligkeit bestimmt und Zugänge zur Seligkeit anspricht.

Wir versäumen es damit, aus diesem Kapitel die ebenfalls wieder vorhandenen, versteckten Existenziale herauszuholen. Aber Seligkeit ist nicht nur Mehrwert, sondern der Hauptwert, und den muss man den Menschen geben, offen, direkt und so gut man es nur kann.

 


Seligkeit in Ratzingers Darstellung

 

Bis zur Hälfte des Kapitels kommen nur zwei Zitate in Betracht, die mit dem Wesen und der Erlangung der Seligkeit zu tun haben: "unendliche Freude" und "Inthronisation in die Höhe Gottes hinein", letztere nur auf Jesus bezogen. – Diese Ausdrücke sind aber nicht weniger erklärungsbedürftig als die Rede von der Seligkeit. Freude warum und worüber, unendlich lang oder unendlich groß? Soll Seligkeit nur eine Emotion sein? Das Thron-Bild funktioniert längst nicht mehr. Was ist also gemeint?

Die dritte Seligpreisung (der Sanftmütigen) sieht Ratzinger als eine Einladung, auf das "Land des Friedenskönigs" hin zu leben, auf eine "durch den von Gott her kommenden Frieden erneuerte Erde". Wie man darauf hin lebt, das holt Ratzinger aus der siebten Seligpreisung (der Friedfertigen): sie sei eine Einladung Frieden zu stiften, und das könne man nur, wenn man "mit sich selbst und mit Gott versöhnt" sei. – Soll Seligkeit wirklich einen überstandenen Unfrieden voraussetzen? Und wie sieht der versöhnte Zustand dann aus? Doch wieder einfach wie Frieden?

Im Zusammenhang mit der zweiten Seligpreisung, der Trostverheißung für die Trauernden, beschreibt Ratzinger den Trost, und damit wohl die Seligkeit, als "das Reich Gottes, das Stehen im Schutz von Gottes Macht, und das Geborgensein in seiner Liebe". –
Schutz wovor, Geborgenheit gegenüber welcher Unbill? Wie macht sich das Reich bemerkbar? Muss man das alles nicht klar machen?

Die zwei abschließenden Seligpreisungen (der Verfolgten und Verleumdeten) resümiert Ratzinger so: "Erst dann wird der Leidende wahrhaft getröstet sein, … wenn keine mörderische Gewalt ihn und die machtlosen Menschen dieser Welt bedrohen kann …" – Nüchtern zusammengefasst würde das heißen: Seligkeit ist eine Utopie, denn Bedrohungen durch Menschen gibt es immer.

Im Zusammenhang mit der vierten Seligpreisung spricht Ratzinger vom "Durst und Hunger [nach Gerechtigkeit], der selig ist, weil er den Menschen zu Gott, zu Christus führt und deshalb die Welt dem Reich Gottes öffnet". – Diese Seligkeit wäre nun wieder keine Utopie sondern das Attribut eines gegenwärtigen Strebens. Die richtige Art von Gerechtigkeit ist allerdings nirgends definiert. Spielt sie wirklich keine Rolle?

In Ratzingers Auslegung der sechsten Seligpreisung (derer reinen Herzens) schließlich "betritt der Mensch die Wohnstätte Gottes und kann ihn sehen. Und eben das heißt: selig sein". Sehen ist hier im übertragenen Sinn gemeint, als "das innere Zusammenspiel der Wahrnehmungskräfte des Menschen", es sieht "das innere Auge des Menschen". Jesus sehe Gott aufgrund seiner Sohnexistenz. – Wohin muss man sehen, und wie funktioniert Seligkeit allein durch Sehen? –

Ratzinger lässt kein erschöpfendes Verständnis von Seligkeit erkennen. Er assoziiert sie mit allem Möglichen und kommt gerade dadurch nicht bei einer nachvollziehbaren Bestimmung an. Wer nicht schon vorher über Seligkeit Bescheid weiß, weiß es nach seinen Ausführungen auch nicht.

Wer aber – wie Jesus oder Matthäus – einen Weg zur Seligkeit vermitteln will oder – wie wir hier in dieser Kritik – die Vermittlung von Seligkeit erörtern will, kommt nicht ohne ein eigenes, kommunizierbares Verständnis aus. Deshalb müssen wir hier als erstes die Bestimmung der Seligkeit nachholen.

 

Innerweltliche Bestimmung der Seligkeit

 

Seligkeit ist eigentliches Glück, ein über alles guter Daseinszustand. In der Welt können wir nach Glück streben und Glück haben. Wir sehen dann, dass die Dinge für uns gut gelaufen sind oder gut liegen. Dies ist ein flüchtiger Abglanz von Seligkeit. Dauerhaft sind nicht die für uns guten Zeiten in der Welt, sondern die Wechselhaftigkeit der Welt. Seligkeit sieht sozusagen das ganze Dasein, einschließlich dieser Wechselhaftigkeit, als einen Glücksfall: Die Welt ist richtig, zuverlässig, interessant, reich, schön, gut, ein übergroßes Geschenk. Seligkeit ist dabei keine naive Weltsicht, die alles Böse und Unglück in der Welt verdrängt oder beschönigt. Es geht um eine Daseinshaltung, in der man mit sich und der Welt, einschließlich aller üblen Phänomene und auch, wenn einen selbst das Übel trifft, im Reinen, locker, erlöst und froh leben kann.

Diese richtige – "gerechte" – Haltung gegenüber der Welt erfordert, dass wir eine Position "gegenüber" der Welt einnehmen und die Welt als Funktion unseres Daseins in den Blick bekommen. Unser Blick ist normalerweise an die Inhalte der Welt gebunden. Wir müssen von ihnen loskommen, um unsere Daseinssituation wahrzunehmen, mit uns Selbst als "externem Spieler" vor der realen Realität unserer Welt. Um den Blick auf unser Dasein können wir uns entweder selbst bemühen und dazu die Erfahrungen existenziell kompetenter Menschen heranziehen, oder er wird uns auf die harte Tour vom Schicksal aufgezwungen. Spätestes wenn unsere "Welt zusammenbricht", tauchen wir aus der Welt auf, werden "auf uns selbst zurückgeworfen" und befassen uns notgedrungen mit unserer Haltung zur Welt.

Wenn uns eine Welt zusammenbricht, wenn uns also ein bedeutender Komplex von Möglichkeiten, die wir bisher leben konnten, plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht, dann erkennen wir im Nachhinein, wie viel er uns wert war, und vielleicht sogar allgemeiner, wie viel eigentlich unsere gesamte Welt, die Summe aller unserer Lebensmöglichkeiten wert ist. Bei vielen Menschen ändert diese Erkenntnis ihre Lebenshaltung positiv, und sie machen mehr aus ihren verbleibenden Möglichkeiten und leben neue Möglichkeiten aus. Dies ist ein Schritt zur Seligkeit.

Wenn wir es ohne Not schaffen, unser Dasein in den Blick zu bekommen, geht uns vielleicht auf, was für eine tolle Realität es uns bietet, besser ausgestattet als jede virtuelle Realität, und mit besseren Spielregeln und Szenarien. Sie haben uns mit Null Möglichkeiten, Null Verstehen, Null Handlungsfähigkeit anfangen und dann bis zu unseren heutigen Lebensfähigkeiten wachsen lassen – aufgrund unserer Anlage, Welt zu bauen und Leben zu mehren, und durch Herausforderungen jeder Größenordnung. Von Null Welt bis zu einer über alles reich ausgestatteten, erschlossenen Welt, die bei jedem Menschen so groß ist, dass er sie gewiss nicht in einer Lebenszeit beschreiben könnte. Ein so gutes Spiel des Lebens, dass niemand es vorzeitig verlassen will und niemand ein besseres konzipieren könnte. Das ganze auch noch kostenlos, ohne dass wir das Geringste zur Herstellung und zum Betrieb geleistet haben und beitragen: ein absolut reiches und gutes Geschenk. – Wenn man sich dieser Sicht nähert, dann richtet sie die Daseinshaltung automatisch aus und nähert sie der Seligkeit an.

Was von alledem zeigen die Seligpreisungen in der Bergpredigt?

 

Seligkeit im Sinne der Bergpredigt: Zugänge und Charakteristika

 

Der Verkünder und der Textautor der Seligpreisungen wissen von den beiden Zugängen oder Startpunkten zur Seligkeit: durch schweres Schicksal (Leid tragen / trauern, nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, verfolgt werden), und "im Guten" (sanftmütig, barmherzig, reinen Herzens, friedfertig sein).

Überdies wird ein Nicht-Zugang betont: der per Intellekt (geistlich arm sein). Das Dasein ist intellektuell nicht zu erfassen, weil nicht begrifflich. Denken ist eine innerweltliche Handlung. Die Intensivierung innerweltlicher Handlungen fixiert einen aber nur umso intensiver in der Welt, und bringt einen niemals in eine Position gegenüber der Welt. Man muss sich von intellektuellem Reichtum ebenso ablösen wie von materiellem Reichtum, um das Dasein mit seiner außerweltlichen Verwurzelung überhaupt in den Blick bekommen zu können und dadurch seine Daseinshaltung ausrichten zu lassen.

Nun zur Seligkeit selbst: Sie wird bildhaft, wie folgt, umschrieben: das Himmelreich besitzen, getröstet sein, das Erdreich besitzen, gerecht gestellt sein, Barmherzigkeit erlangt haben, Gott schauen, Gottes Kind heißen, im Himmel reich belohnt sein. Der Bezug auf das Erdreich, d.h. auf die Welt, sichert, dass Seligkeit nicht einfach als jenseitig verstanden wird. "Gott schauen" steht für den Blick auf die Daseinssituation mit Gott als Schöpfer unseres interaktiven Daseinsfilms. "Gottes Kind heißen" kann einerseits besagen, dass wir unsere göttliche Komponente, unser Eigentliches Selbst, dabei ebenfalls im Blick haben, andererseits, dass wir uns in der Welt am besten bewegen wie Kinder, die wissen, dass ihr Vater sie nicht überfordert sondern auf immer mehr Lebenstüchtigkeit hin trainiert. "Barmherzigkeit erlangt haben" heißt, dass wir von unserer Schuld nachhaltig entlastet sind. "Getröstet sein" und "von Gerechtigkeit satt sein" bedeuten, dass uns das Leid und das Böse der Welt nicht beherrschen können. In den Seligpreisungen der Leid Tragenden, der nach Gerechtigkeit Hungernden und der Verfolgten klingt an, dass diese Situationen die Seligkeit nicht schmälern sondern mit ihr schon bewältigt sind. Seligkeit wird gezeigt als positiv auch gegenüber dem Übel, das einen selbst betrifft.

Das ist in Summe eine ziemlich treffende und, gemessen an ihrer Kompaktheit, gute Eingrenzung der Seligkeit. Allerdings ist sie auch unzulänglich, weil sie Wichtiges nicht klar macht: dass Seligkeit eine Daseinshaltung ist und welche, und weil sie nicht zeigt, wie Seligkeit "funktioniert", d.h. wie man das Dasein so sehen kann, dass man selig ist. –

Der Textautor der Seligpreisungen selbst versagt sich also ebenfalls ein größeres letztes Stück Klarheit. Immerhin signalisiert er das von sich aus und auffällig. Ratzinger geht auf diesen Aspekt nicht ein, so dass wir das hier wieder selbst ausführen.

 


Die Textqualität der Seligpreisungen

 

Vor allem fällt ja auf, wie verwirrend, ja geradezu schlecht die Seligpreisungen geschrieben sind.

Das beginnt bei kleinen "Störungen" der Systematik: Die erste Seligpreisung endet mit einer Verheißung für die Gegenwart: "ihrer ist das Himmelreich", alle weiteren Seligpreisungen weisen in die Zukunft. Was soll also gelten: Gegenwart oder Zukunft oder Zeitlosigkeit? Die letzte Seligpreisung weicht in der Form von allen vorhergehenden ab, wechselt in die zweite Person, bringt zusätzlich Jesus ins Spiel, und schiebt nach der Belohnung im Himmel noch die zweite Begründung mit den Propheten nach, als wäre die erste nicht ausreichend. Die Seligpreisungen werden dadurch am Ende verunsichert.

Die gröbste Merkwürdigkeit ist die sprachliche Konstruktion: "Selig sind die X, denn sie werden Y". Der erste Teil kann dreierlei bedeuten "aus selig folgt X" oder "aus X folgt selig" oder beides gleichzeitig. Matthäus lässt das offen, obwohl es leicht eindeutig zu machen wäre. "Denn" drückt immer eine Kausalität aus, also: "weil zukünftig Y, deshalb die Beziehung zwischen selig und X", oder an einem Beispiel: Weil sie künftig getröstet werden sollen, sind die Leid Tragenden selig und/oder die Seligen Leid Tragende. Das kann nicht gemeint sein, Seligkeit funktioniert nicht als Hypothek auf die Zukunft. Aber Matthäus unterlässt es, die Zusammenhänge richtig und unmissverständlich zu formulieren. Sollte das Schlampigkeit sein – ausgerechnet, wo es um unsere Seligkeit und damit um unsere Existenz geht?

Die Zuordnungen der Y zu den X sind geradezu willkürlich. Warum steht da nicht "Selig sind, die reinen Herzens sind, denn ihrer ist das Himmelreich" oder "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie werden Gottes Kinder heißen"? Die einen bekommen das Himmelreich und die anderen das Erdenreich – wieso? Man kann sagen, Himmelreich, Trost, Erdreich besitzen, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit usw. seien sämtlich Aspekte der Seligkeit und in so einer Aufzählung austauschbar: Wenn man selig ist, hat man das Himmelreich, ist getröstet, usw. Aber warum werden diese Aspekte dann einzeln den X zugeordnet?

Und wenn die Y Aspekte der Seligkeit sind, Aspekte wessen sind dann die X? Aus unserem Vorwissen heraus können wir sagen, die X bezeichnen Situationen, in denen der Zugang zur Seligkeit nahe liegt, weil uns entweder ein hartes Schicksal dazu zwingt, indem wir z.B. Leid und Ungerechtigkeit zu tragen haben oder verfolgt werden, oder wenn wir uns selbst um einen Blick auf das Außerweltliche bemühen und uns dazu von innerweltlichen, materiellen und geistigen Strebungen ein Stück frei machen müssen, z.B. von Macht, Reichtum, intellektueller Stärke, und wir uns dementsprechend geistig arm, sanftmütig, barmherzig, friedfertig verhalten.

Die nächstliegende korrekte Gedankenstruktur der Seligpreisungen wäre demnach: Zugang zur Seligkeit findet man am ehesten in den Situationen X, und dann erlebt man sie als Y.

Das bleibt aber noch weit hinter der äußersten Konsequenz unserer obigen Bestimmung zurück, nach der wir in der Daseinshaltung der Seligkeit auch das schlimme Schicksal als gut empfinden. Diese Beschränkung ist unter Umständen verständlich. Matthäus geht ja immerhin so weit, dass er Seligkeit überhaupt mit schwerem Schicksal in Verbindung bringt, und auch das ist schon eine Assoziation, die fast alle Leser provozieren dürfte und die man deshalb besser gut verpackt, abwiegelt, wenn nicht gar sicherheitshalber verbiegt und versteckt. Dazu sind die aufgezählten "Mängel" des Textes gut geeignet: um etwas darin zu verstecken, braucht man genügend Textlänge; Aufzählungen harmloser, eingängiger Inhalte können der unauffälligen Einbettung eines problematischeren Inhalts dienen und ihm die Spitze nehmen; die Verrätselung der Logik nimmt der Härte der Botschaft die Gewissheit.

Die verwirrende Gestalt der Seligpreisungen hat damit theoretisch vier mögliche Begründungen: Jesus verstand nichts von existenzieller Seligkeit, Matthäus verstand nichts von existenzieller Seligkeit, Matthäus hat grob nachlässig geschrieben, oder Matthäus hatte Gründe, sich sehr vorsichtig zu äußern, und daher kalkuliert so geschrieben, dass es wie nicht gekonnt erscheint.

Ratzinger erklärt früh in seinem Buch, dass er den Evangelien traue. Daraus stellt sich nun die Frage, worauf er hier speziell vertraut: auf die Darstellung der existenziellen Kompetenz Jesu, auf die existenzielle Kompetenz des Matthäus, auf die Geradlinigkeit des Matthäus, auf die unmittelbare Wahrheit des Textes?

Die existenzielle Analyse der gesamten Bergpredigt liefert ein eindeutiges Ergebnis: Matthäus versteckt existenzielles Wissen.

Und die Christologie und Ratzinger tun es auch. Wenn man alle existenzielle Weisheit der Menschheit als unerreichbar einmalig auf Christus projiziert, kann man sie offen sichtbar halten und fortschreiben, und gleichzeitig bleibt jeder Einzelne von der Konfrontation mit der eigenen Existenz verschont. Ratzinger ist von der mangelnden Schreibqualität der Seligpreisungen überhaupt nicht irritiert. Sie hindert ja nicht an der Ausbreitung von zusätzlichem Material. Und so häuft er über die Seligkeit eine Menge aus eigenen Interpretationen, Zitaten, Bezügen zum Alten Testament, Bezügen zur Kirchengeschichte, Weltkritik und führt damit weiträumig um den existenziellen Aspekt der Seligkeit herum, so dass dieser niemand unversehens treffen kann.

 

2  DIE TORA DES MESSIAS

 

Grundlage dieses Unterkapitels in Ratzingers Buch ist die Absichtserklärung Jesu, "das Gesetz und die Propheten" nicht aufzuheben sondern zu erfüllen. Von jemand mit existenzieller Kompetenz ist eine solche Rede nichts Besonderes, weil nicht anders zu erwarten. Jesus erkennt die existenzielle Kompetenz im Alten Testament und bestätigt sie. Aber er ist gegenüber den alten Lehren weiter in seiner Fähigkeit der annähernd zeigenden Rede, und er hat sich mit der Gesetzespraxis der religiösen Elite auseinander zu setzen. Deshalb predigt er Korrekturen und Wertungen der alten Gesetze.

Hier hakt Ratzinger ein: Die Tora sei von Gott, und Jesus stelle sich auf die gleiche Höhe, wenn er sich erlaube, als Gesetzgeber aufzutreten. Er dürfe das, weil er als Sohn die "Vollmacht" Gottes habe.

Es folgen: eine längere Abgrenzung dieser Position gegenüber dem jüdischen Glauben und dann am Beispiel des Sabbat und des Vierten Gebots zwei Darstellungen der Art und Weise, wie der christliche Glaube den jüdischen Glauben fortschreibe und erweitere: zum Ersten Jesus als der neue Friedensbringer, woraufhin ja der Sabbat ursprünglich ebenfalls angelegt war, zum Zweiten die Kirche als die sozusagen mit Israel begonnene, nunmehr erweiterte und auf die ganze Welt ausgedehnte, neue Familie Gottes.

Am Schluss kommt Ratzinger darauf zurück, dass Jesus die Gesetzesinhalte auf ein neues Niveau anhebe: "Die Höhe des Ethos, die sich hier ausdrückt, wird immer wieder Menschen aller Herkünfte erschüttern und als Gipfel sittlicher Größe anrühren". Ratzinger unterteilt das "Recht" in diesem "Gesetzeskodex" in zwei Arten: kasuistisches und apodiktisches Recht, anders gesagt: konkrete Regeln für die Sozialordnung und übergeordnete, göttliche Prinzipien oder Metanormen. Die Prinzipien sind im Wesentlichen Gottes- und Nächstenliebe. Die konkreten Regeln unterliegen diesen Prinzipien, sind von ihnen her kritisierbar und können und müssen mit der Zeit fortgeschrieben werden. Jesus habe die konkreten Regeln sozusagen dynamisiert, sie "aus der Tora herausgenommen und die Verantwortung an eine sehend gewordene Vernunft" übertragen. –

Ratzingers Darstellung steht und fällt mit seinem Gesetzesbegriff. Zwar klassifiziert er nicht mehr alle Vorschriften der Heiligen Schrift als göttliche Gesetze, aber er möchte doch einen Teil als göttlich behalten, etwa die übergeordneten, apodiktischen Vorschriften zur Gottes- und Nächstenliebe. Demgegenüber wissen wir: Wie auch immer gefasste Gesetzestexte können niemals von Gott sein oder auch nur von Gott inspiriert. Derlei Aussagen sind nichtig, weil Gott kein Begriff ist, und man ihn deshalb in keine Aussage einbauen kann. Und wenn man trotzdem behauptet, Worte seien von Gott, dann kann das nur wieder ein fiktiver begrifflicher Gott sein, aber nicht der eine, absolute Gott, der nicht von dieser Welt ist.

Wenn Ratzinger die entsprechenden biblischen Texte zur Gottes- und Nächstenliebe nicht als Vorschriften nehmen würde, sondern als annähernd zeigende Rede über Wesenheiten unseres Daseins (Existenziale), dann wäre das Problem verschwunden: Unser Dasein ist so, wie wenn es an ein Außerweltliches gebunden ist, das man in verschiedenen Sichtlinien in den Blick bekommen kann, u.a. den Blick auf den Schöpfer, auf das eigene Eigentliche Selbst und auf das jeweilige Eigentliche Selbst der anderen Menschen. Diese Bindung ist die existenzielle Art der Liebe, hier in drei Dimensionen, der Liebe zu Gott, zum Selbst und zum Nächsten.

Es ist ein Kategorienfehler, Existenziale in Vorschriften, also etwas Absolutes in etwas Innerweltliches umzudeuten. Dieser Fehler ist gängig im Alten und Neuen Testament und in der Geschichte und Gegenwart der monotheistischen Religionen.

Das Musterbeispiel sind die Zehn Gebote – Ratzinger spricht von den "großen Imperativen des Dekalogs". Als Existenziale sind sie nicht nur groß sondern absolut – unausweichlich, undiskutierbar, unbeantwortbar –, als Imperative sind sie nicht einmal groß, sondern unklar in den Begriffen ("missbrauchen", "heiligen", "ehren"), unklar in der Reichweite (dürfen wir als Menschen Gebote hinzufügen, z.B. gegen Mobbing oder gegen das Versenden von Computerviren?), und unklar in den Folgen der Einhaltung und Nichteinhaltung. Ratzinger versucht sie als Imperative groß zu reden.

Etwas Innerweltliches groß reden, scheinbar zu verabsolutieren, das ist der Folgefehler. Wenn das Göttliche erst einmal durch den Kategorienfehler zum Begrifflichen relativiert ist, dann muss die religiöse Lehre sich bemühen, es mit den Begriffen der Welt wenigstens als groß erscheinen zu lassen. Wenn Gott im Menschen Jesus in die Welt gekommen sein soll, dann muss man Jesus überhöhen und als Christus präsentieren.

Und so schreibt Ratzinger, aufgrund der berühmten "Ich aber sage euch"-Lehren, Jesus eine überragende Höhe des Ethos, den Gipfel der Sittlichkeit zu. Als Imperative mögen diese Lehren schärfer sein als die entsprechenden Gebote aus dem Alten Testament und deshalb für Ratzinger höherwertig. Aber mit dieser Darstellung redet er Jesu Lehre und damit auch ihn selbst klein.

Die Größe der Lehre Jesu liegt in der Absolutheit ihrer Inhalte. Die Größe Jesu als Mensch besteht in seiner außerordentlichen existenziellen Kompetenz, dem Mut für sie einzustehen und dem Geschick, sie zu erhalten und zu verbreiten. Das reicht, um alles von und um Jesus herum zu verstehen und zu erklären.

Eines der Existenziale, die er lehrt, ist jenes, dass unser Dasein so angelegt ist, dass wir unser eigenes und das Leben der Mitmenschen mehren, und dass wir andernfalls schuldig werden. Sich zu versöhnen, die Frauen nicht niederzuhalten, das Böse nicht zu bekämpfen, nicht zurückzuschlagen, den Feind als Gotteskind zu sehen und zu behandeln, zwei statt einer Meile mitzugehen, statt dem Rock auch den Mantel herzugeben, sind keineswegs paradox, wie Ratzinger behauptet, sondern simple Folgerungen aus diesem Existenzial, weil das jeweils alternative Verhalten Leben mindert bzw. die Minderung vergrößert.

Ein Existenzial ist nicht etwas, dem man bei Strafe Gottes gehorchen muss oder kann. Es ist gar kein Satz, sondern etwas, das man entweder – mit seinem inneren Auge – sieht oder eben nicht sieht. Wenn man es einmal sieht, dann wirkt es wie das Gewissen: man entkommt ihm nicht mehr. Wenn man es nicht sieht, dann ist es so, wie wenn man ein Computerspiel ohne Regelkenntnis spielt: vieles geht nicht gut, und man merkt es nicht oder weiß nicht warum.

Die richtige Antwort auf die sogenannten "Gebote" oder "Gesetze" ist also nicht Gehorsam, womöglich aus Furcht und womöglich unabhängig davon, ob man sie versteht und einsieht. Die "Gebote" und "Gesetze", so wie Jesus sie sieht, sind – wie alle Existenziale – absolute Setzungen, und die richtige Antwort darauf ist eine "automatische", absolut gesetzte Folge: die Ausrichtung der Haltung auf das Existenzial, im obigen Beispiel die Ausrichtung der Haltung auf die Mehrung von Leben. –

Bei Matthäus sind hier nur die konkreten Beispiele korrekt. Er vermeidet, das Existenzial zu thematisieren. Er schreibt nicht davon, dass wir in jeder Situation Leben zu mehren haben, lässt damit das jeweilige "richtige Verständnis" unerklärt dastehen, und verleitet so dazu, in den Beispielen auch wiederum nur schärfere Vorschriften zu sehen. Statt zu erklären, bringt er wüste Drohungen aber auch positiv gemeinte Begründungen. Nur die konsequent in den Text eingebauten Übertreibungen – die religiöse Elite kommt nicht in den Himmel; wenn ich zulasse, dass mein Bruder etwas gegen mich hat, ist das auch ein bisschen Töten; ggf. soll ich mir ein Auge herausreißen oder die Hand abhacken – könnten einen suchenden Leser veranlassen gründlicher nachzudenken. Aber dafür gibt es dann weiter keine helfenden Hinweise.

Ratzingers Text dagegen, mit seiner Beschreibung von Jesus als bevollmächtigtem Gesetzgeber erschütternd hoher ethischer Imperative, hält sich und den Leser weit und sicher von der existenziellen Sicht entfernt.

 


 

5. KAPITEL:  DAS GEBET DES HERRN

 

Vor dem Einstieg in den Gebetstext treibt Ratzinger einigen Aufwand, das Vaterunser umzupositionieren,

-          als Herrengebet, obwohl da nicht "Unser Herr" steht sondern "Unser Vater",

-          als Wir-Gebet, das nur gemeinschaftlich gebetet effektiv zu Gott hinaufreichen könne, obwohl ein paar Verse davor steht, man solle zum Beten in sein Kämmerlein gehen und die Tür verschließen,

-          als Bittgebet, obwohl ein paar Verse davor und auch sonst mehrfach im Alten und Neuen Testament steht, dass Gott sowieso weiß und uns allen gibt, was wir brauchen, und

-          als von Gott geschenkte Gebetshilfe – obwohl es wiederum offensichtlich schlecht geschrieben ist.

Das ist eher Umlegung als Auslegung.

Wenn es um die Existenz geht, sind solche Positionierungen völlig irrelevant. Da zählt nur, ob das, worauf der Inhalt zeigen soll, tatsächlich in den Blick kommt. Es kommt auch bei Ratzinger in den Blick. Mitten in seiner Positionierungsargumentation schreibt er:

"Wir werden umso besser beten, je mehr in der Tiefe unserer Seele die Ausrichtung auf Gott da ist. Je mehr sie der tragende Grund unserer Existenz wird, desto mehr werden wir Menschen des Friedens sein. Desto mehr können wir den Schmerz tragen, desto mehr die anderen verstehen und uns ihnen öffnen. Diese unser ganzes Bewusstsein durchprägende Orientierung, das stille Anwesendsein Gottes auf dem Grund unseres Denkens, Sinnens und Seins, nennen wir das 'immerwährende Gebet'. Sie ist letztlich auch das, was wir mit Gottesliebe meinen, die zugleich die innerste Bedingung und Triebkraft der Nächstenliebe ist".

Man muss in diesem Text zwar von den falsch zeigenden psychologischen Termini absehen, denn Religion ist nicht Psychologie. Das Bild vom inneren Auge, das Ratzinger an anderer Stelle benutzt, wäre auch hier geeigneter. Aber ansonsten ist dies eine in ihrer Kürze perfekt zeigende, existenzielle Rede, die übrigens nachträglich einer Bestimmung der Seligkeit ein Stück weit nahe kommt. Und das alles ohne Erwähnung von Jesus, Christus, Gottes Sohn, Vollmacht!

Wenn das so ist, dann wundert man sich allerdings, dass Ratzinger so tut, als wäre es für die Ausrichtung auf Gott wirklich relevant, wie das Vaterunser positioniert ist. Bin ich friedlicher, wenn das Vaterunser ein Bittgebet und nicht einfach eine Beschreibung meiner Existenz ist? Kann ich Schmerz besser tragen, wenn ich das Vaterunser als von Gott geschenkt sehe als wenn ich es einfach verstehe? Was passiert hier eigentlich schriftstellerisch? Ratzinger weiß über die Existenz Bescheid, aber er jubelt sie dem Leser sozusagen zwischen langen Erörterungen unter. Das ist dasselbe System, das wir schon zuvor bei Matthäus mit den Seligpreisungen diagnostiziert haben.

Sehen wir, ob und wie sich das in Ratzingers Auslegung der einzelnen Verse des Gebets selbst zeigt.

 

Vater unser in den Himmeln

 

Zunächst ist Schluss mit existenzieller Rede. Ratzinger deutelt an dem Begriff "Vater" herum. Die Seligkeit, von der jeder eine mehr oder weniger unsichere Vorstellung hat, hatte er zuvor im Zusammenhang mit den Seligpreisungen nicht definiert, aber den Begriff vom guten Vater, den jeder Mensch sicher hat und gewiss nicht aufgibt, versucht er hier umzudefinieren und dabei zu verengen.

So sei es "ein großer Trost", dass wir Vater sagen "dürfen", "weil der Sohn unser Bruder war und uns den Vater geoffenbart hat; weil wir durch die Tat Christi wieder Kinder Gottes geworden sind". Kindschaft sei ein dynamischer Begriff geworden: "Wir sind nicht schon fertige Kinder Gottes, sondern wir sollen es durch immer tiefere Gemeinschaft mit Jesus immer mehr werden und sein". Schließlich: "Nur Jesus konnte mit vollem Recht sagen 'mein Vater', weil nur er wirklich Gottes eingeborener Sohn ist, eines Wesens mit dem Vater. Wir alle müssen demgegenüber sagen: 'unser Vater'. Nur im Wir der Jünger können wir zu Gott Vater sagen, weil wir nur durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus wirklich 'Kinder Gottes' werden". "Mutter" sei dagegen kein Gottestitel, keine Anrede für Gott: "Wir bitten, wie Jesus auf dem Hintergrund der Heiligen Schrift uns zu beten gelehrt hat, nicht wie es uns selber einfällt oder gefällt. Nur so beten wir recht".

Nehmen wir Ratzinger zunächst formal beim Wort. Jesus hat uns offensichtlich gelehrt, Gott als unseren Vater zu sehen. Allein in der Bergpredigt sagt er – fallweise dekliniert – 15-mal "euer Vater" oder "dein Vater", und einmal "unser Vater". Vater ist Vater. Wenn jemand mein Bruder ist, dann ist mein Vater auch sein Vater. Wenn ich mit meinem Vater reden will, dann tue ich das einfach. Ich brauche dazu keine Erklärung, was ein Vater ist, keine Erlaubnis "Vater" sagen zu dürfen, und es gibt keine Einschränkungen der Art, dass mein "Vater" für mich nicht alleine sondern nur in Gemeinschaft zu sprechen sei.

Was Ratzinger in den Raum stellt, ist kein Vater sondern ein fiktiver, inkrementeller Sonder-Adoptiv-Vater mit Zügen eines schlechten Chefs. Dafür steht das Wort Vater nicht zur Verfügung. Wenn Ratzinger ein anderer Begriff einfällt oder gefällt, dann müsste er eigentlich einen anderen Namen dafür verwenden und im Übrigen erklären, dass er Jesus widerspricht.

Um welchen Aspekt geht es existenziell? Dass unser Dasein behütet, betreut und gefördert wirkt, so, wie ein Kind von guten Eltern. Das ist mehr, als das ältere Bild vom Hirten und Schaf aussagt. Unser Dasein zeigt im Nachhinein deutlich, dass wir nicht nur behütet, sondern allezeit für das Leben trainiert und gecoacht werden. Wie schon oben gesagt: am Anfang des Lebens können wir nichts, außer unser Leben mehren, und jetzt können wir so viel im Leben, dass wir niemals alles beschreiben könnten. Es ist wie wenn uns ein außerweltlicher Produzent und Vorführer unserer echten Realität, deren Situationen und Herausforderungen stets so anlegt, dass wir daran wachsen, uns neue Lebensmöglichkeiten erschließen und so unsere Welt vergrößern.

Dies ist ein Existenzial und gilt für jeden Menschen. In diesem Sinne ist jeder Mensch schon immer gleichermaßen "Kind Gottes". Wer das einem Menschen ganz oder teilweise abschreibt, mindert Leben und begründet Schuld.

Was ist die Rolle Jesu dabei? Er hat dieses Existenzial besser gesehen als die gesamte religiöse Elite seiner Zeit, und hat diese Sicht ohne Einschränkung jedem Menschen angeboten. Der Unterschied bei den Menschen besteht nicht in dem Maß, in dem sie Gottes Kinder sind, sondern in dem Maß und in der Qualität, wie sie sich und die anderen Menschen als Kinder Gottes sehen.

An diesem Existenzial geht Ratzinger in seiner Zweckargumentation für die besondere Sohnschaft Jesu knapp aber ohne Bedenken vorbei, sozusagen ohne es eines Blickes zu würdigen.

 

Geheiligt werde dein Name

 

Ratzinger sieht richtig den Zusammenhang dieser Zeile zum Zweiten Gebot. Da er aber die Zehn Gebote für Imperative hält, und auch noch der schwachen Übersetzung "verunehren" aufsitzt, verpasst er schon wieder ein Existenzial.

Er diskutiert verschiedene Bezeichnungen für Gott und Gebrauchsregeln dieser Bezeichnungen. Der Gewinn aus dem Namen sei, dass er Gott anrufbar mache, der Preis, dass der Name missbraucht und besudelt werden könne. Diese Vaterunser-Zeile sei eine Bitte an Gott, "dass er selbst die Heiligung seines Namens in die Hand nehme". –

Innerweltliche Aussagen können mit einem absoluten, außerweltlichen Gott nichts zu tun haben, und sollten sie noch so "verunehrend" sein. Wir haben schon festgestellt, dass das Außerweltliche kein Begriff ist, und dass man mit einer Bezeichnung des Außerweltlichen nur nichtige Aussagen bilden kann. Aussagen, die Gott nach innerweltlichen Maßstäben negativ belegen, sind dabei eben so nichtig, wie Sätze, die Gott positiv belegen.

Was bleibt unter diesen Umständen vom Zweiten Gebot bzw. von dieser Zeile des Vaterunser übrig? Der Missbrauch besteht genau in der Benutzung des Namens Gottes in Aussagen, und er ist keine unmoralische Verletzung einer autoritativ begründeten Regel, sondern ein Irrtum über das Außerweltliche: Über Gott kann nichts ausgesagt werden, und deshalb sollte man es auch nicht versuchen, andernfalls landet man in einer unseligen Daseinshaltung.

 


Dein Reich komme

 

Ratzinger reduziert den Begriff "Reich" erneut fast völlig auf "Herrschaft", und dann geht es nur noch darum, die "Maßstäblichkeit" des Willens Gottes anzunehmen und mit einem "hörenden Herzen" zu erkennen. So gesehen wäre diese Bitte nicht viel mehr als ein Vorgriff auf die nachfolgende, dass Gottes Wille geschehe.

Ein Reich besteht aber nicht nur aus einer Herrschaftsstruktur, und irgendetwas hat es auch mit dem Adjektiv "reich" zu tun. Wenn man dem nicht nachgeht, verpasst man die Sicht auf den Reichtum von Gottes Reich. Ratzinger setzt immerhin dazu an: "Wo er [Gott] nicht ist, kann nichts gut sein. Wo Gott nicht gesehen wird, verfällt der Mensch und verfällt die Welt". Dies ist eine treffend zeigende Rede über eine Struktur unseres Daseins. Aber sie ist nur negativ und daher fast inhaltsleer. Was ist denn bei Gott "gut", so gut, dass es in unserer Verfallenheit in der Welt unseren Blick einfängt und uns dazu bewegt, uns aus dieser Verfallenheit zu lösen?

Wir haben schon bei der Kritik des 3. Kapitels über das Evangelium vom Reich Gottes und dann wieder bei den Seligpreisungen gesehen, dass Ratzinger diese Information selbst an entscheidender Stelle nicht bringt, dass sein Evangelium rein abstrakt ist. Die eigentlich zu erwartende, überbordend reiche inhaltliche Substanz des Reiches Gottes kommt auf 400 Textseiten nicht.

Dabei bestünde das "Kommen" des Reiches Gottes genau darin, die Sicht auf diese Substanz zu gewinnen. Und sie ist wirklich nahe: Man schaue sich die Welt so lange an, bis man sieht und verinnerlicht, dass und in welcher Weise sie gut ist. Und wer das sieht, der zeige es den Anderen.

 

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden

 

Man kann keine Aussage über einen Willen Gottes machen, und so ist diese Bitte nichtig. Sie steht für ein Existenzial, das es zu erraten gilt.

Ratzinger setzt Gottes Willen dem eigenen Willen des Menschen entgegen, dessen Schwergewicht den Menschen immer wieder weg von Gottes Willen ziehe und ihn "bloße 'Erde' " werden lasse. Himmel sei, wo Gottes Wille geschehe, und in und durch Jesus geschehe Gottes Wille. Er, Jesus, "nimmt uns an, zieht uns zu sich hinauf, in sich hinein, und in der Gemeinschaft mit ihm erkennen wir den Willen Gottes".

Ersetzen wir in dieser Struktur Jesus durch unser Eigentliches Selbst, so haben wir genau die bereits in der Kritik der Einführung beschriebene Gebetsstruktur vor uns: Eigentliches Beten als Versuch, den Selbstpunkt aus der Welt zurückzuziehen, zum Eigentlichen Selbst zu finden und unser Sein in der Welt von daher zu lenken. Das "Wollen" ist innerweltlich den Gesetzen der Welt, d.h. der Kausalität und dem Zufall unterworfen. Das Eigentliche Selbst dagegen ist gegenüber der Welt frei und kann durch seine Daseinshaltung seinem Handeln eine eigentlich gewollte Richtung geben.

Dies beschreibt aber sozusagen nur die eine Hälfte der Willensstruktur des Daseins. Die andere Seite besteht darin, was uns in der realen Realität unserer Welt begegnet. Das sehen wir als von Gott, dem außerweltlichen Live-Produzenten, unausweichlich, schicksalhaft gegeben, wie wenn dahinter ein absoluter Wille steht.

Das, was wir "Gottes Wille" nennen, geschieht einfach in allem, was uns in der Welt begegnet, und in dem, wie wir uns vom Eigentlichen Selbst her entwerfen. Das ist absolut so, und eine Bitte darum ist einfach ein falscher Ausdruck.

Ratzinger nimmt trotzdem die Bitte als Bitte. Immerhin: um die Sicht auf diese "existenzielle Willensstruktur" muss man sich bemühen. Die Bitte um diese Sicht geht an einen Selbst. –

 

Unser tägliches Brot gib uns heute

 

Diese Bitte ist bereits mit der Kritik des Unterkapitels über die Erste Versuchung Jesu hinreichend behandelt: Gott gibt uns ungebeten das Leben in der Form seines Wortes, d.h. der von ihm artikulierten und von uns verstehbaren und verstandenen Phänomene, die unsere jeweilige Welt ausmachen, und das ist alles, was wir zum Leben und Leben Mehren benötigen.

Ratzinger sieht den Bezug zu der Geschichte von Jesu Versuchung ebenfalls, geht zwischendurch auf einige andere Themen zum Stichwort "Brot" ein, und führt die Betrachtung schließlich auf Jesus als das fleischgewordene Wort Gottes hin, und auf seine erbetene Präsenz im Brot der Eucharistie.

Zwei Punkte wollen wir hier herausgreifen und existenziell justieren. Ratzinger warnt vor der falschen Sicht, dass wir die Beschaffung des menschlich Lebensnotwendigen unter Kontrolle haben oder bringen könnten, und leitet daraus ab, dass wir uns Gott gegenüber öffnen müssen: "Das Brot ist 'Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit', aber die Erde trägt keine Frucht, wenn sie nicht von oben Sonne und Regen empfängt. Dieses nicht in unsere Hände gegebene Zusammenspiel der kosmischen Kräfte steht gegen die Versuchung unseres Hochmuts, uns selber und allein durch unser eigenes Können das Leben zu geben. Solcher Hochmut macht gewalttätig und kalt. Er zerstört am Ende die Erde; es kann nicht anders sein, weil er gegen die Wahrheit steht, dass wir Menschen auf die Selbstüberschreitung verwiesen sind, nur in der Öffnung Gott gegenüber groß und frei und wir selber werden".

Dies ist ein kleiner, pauschaler Seitenhieb auf Wissenschaft und Technik, wird aber der existenziellen Bedeutung der damit angerissenen Frage nicht gerecht. Wir sind nun einmal in unser Dasein gesetzt und haben die einzige Aufgabe, Welt zu erschließen – gleichbedeutend mit der Mehrung der Lebensmöglichkeiten und damit des Lebens. Welt erschließen: das heißt, etwas wissen oder können, was man eben zuvor nicht wusste oder konnte. Das geht nicht ohne Fehlschläge, auch von gut Gemeintem oder vermeintlich sicher Vorhergesehenem, und der Gewinn solcher Erfahrungen ist Bestandteil der Erschließung von Welt. Nach aller Erfahrung behalten manche mit ihrem Hochmut Recht, andere scheitern. So ist uns die Welt von Gott gegeben, und es ist kein Zeichen der Öffnung zu Gott, wenn wir das negativ belegen.

Das Problem der wissenschaftlichen und technischen Herstellung von Lebens­bedingungen ist nicht der gelegentliche Hochmut, sondern das Unwissen über unser aller, jeweils persönliche, existenzielle Aufgabe, Leben zu mehren. Zum Einzugsbereich dieser Aufgabe gehört auch das Leben der Mitmenschen, die darin vorkommen. "Leben und leben lassen", die Anderen nur tolerieren, ihnen Menschenwürde und Menschenrechte zubilligen: das reicht nicht. Indem wir das Leben der Anderen mindern oder Chancen nicht wahrnehmen, es zu mehren oder seine Minderung zu verhindern, sammeln wir Schuld an. Was ist punktueller Machbarkeits-Hochmut gegen das verbreitete, von der öffentlichen Meinung mitgetragene Versagen der Menschen gegenüber diesem universalen Daseinsgesetz!

Ratzinger hat die Anderen sehr wohl im Blick: "Wir beten um unser Brot – also auch um das Brot für die anderen". Das ist sinnvoll, ändert aber nichts an unserer Aufgabe. Wir sind es, die in der Welt das Leben der Anderen tätig zu mehren haben – und dabei darauf zu vertrauen, dass uns Erfolg geschenkt wird. –

Im zweiten, hier herausgegriffenen Punkt geht es um den Rückzug aus der Welt. Von der Brotbitte leitet Ratzinger nämlich zur Armut der Jünger über: "Wer um das Brot für heute bittet, ist arm. Das Gebet setzt die Armut der Jünger voraus. Es setzt Menschen voraus, die auf die Welt, ihre Reichtümer und ihren Glanz um des Glaubens willen verzichtet haben und nur noch um das zum Leben Nötige bitten … Es muss in der Kirche immer die Menschen geben, die alles verlassen, um dem Herrn nachzufolgen …". Das ist zunächst die Beschreibung eines Lebensentwurfs, aber sie enthält versteckte Wertungen. Deshalb muss man deutlich sagen: Auf die Welt, auf alles "verzichten" kann man nur durch Selbstmord, und Teilverzicht kommt einer Selbstverstümmelung gleich, bei der man Lebensmöglichkeiten aufgibt sowie Chancen, Leben zu mehren. Materielle Reichtümer kann man aufgeben, aber schwerlich alle Reichtümer. Man kann nur (Teil-)Welten verlassen und in andere überwechseln. Die Welt der materiellen Güter ist z.B. eine solche Teilwelt, und die Gedankenwelt ist eine weitere. Auch sie enthält Reichtümer, Schönheit und nicht zuletzt Möglichkeiten, Neues zu erschließen, Terrain zu besetzen, und zu kämpfen. In der Welt des Geistes kann man ebenso aufgehen und ihr verfallen, wie in der materiellen. Man kann auch darin das Außerweltliche völlig aus dem Blick verlieren, selbst wenn man sich alle Zeit nur mit Gott beschäftigt, ja gerade und vor allem, wenn man sich nachhaltig bemüht, Gott zu verstehen und zu erklären.

 

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben

 

Ratzinger beginnt dieses Unterkapitel folgendermaßen: "Die fünfte Vaterunser-Bitte setzt eine Welt voraus, in der es Schuld gibt – Schuld von Menschen gegenüber Menschen, Schuld Gott gegenüber; jede Schuld zwischen Menschen schließt irgendwie eine Verletzung der Wahrheit und der Liebe ein und stellt sich so dem Gott entgegen, der die Wahrheit und die Liebe ist. Die Überwindung von Schuld ist eine zentrale Frage jeder menschlichen Existenz; die Religionsgeschichte kreist um diese Frage. Schuld ruft Vergeltung hervor; so bildet sich eine Kette von Verschuldungen, in der das Unheil der Schuld fortwährend wächst und immer unentrinnbarer wird. Mit dieser Bitte sagt uns der Herr: Schuld kann nur überwunden werden durch Vergebung, nicht durch Vergeltung. Gott ist ein Gott, der vergibt, weil er seine Geschöpfe liebt; aber die Vergebung kann nur in denjenigen eindringen, nur in dem wirksam werden, der selbst ein Vergebender ist".

All das wird jeder weithin genau so sehen. Es ist eine gute annähernd zeigende Rede über Existenzielles. Aber die Formulierungen zur Bestimmung von Schuld und zur Inhärenz von Schuld in der Welt wirken unsicher, und die Formulierung, dass Gott einer ist, der vergibt, ist taktisch verkürzt, um für die Lehre von der Sühne aller Schuld durch Jesu Kreuzestod noch Raum zu lassen.

Sehen und ergänzen wir wieder, was fehlt. Schuld ist negiertes Leben. Schuld tragen wir, wenn wir entgegen der Anlage unseres Daseins Leben nicht mehren oder gar Leben mindern. Dies passiert uns in der Welt unvermeidlich, allein schon dann, wenn wir von zwei Chancen, Leben zu mehren, nur eine ergreifen können, aber natürlich auch wenn wir andere bekämpfen, uns gegen andere durchsetzen, auf Kosten anderer leben, anderen nicht helfen, und es passiert selbst dann, wenn wir auf Mehrung des Lebens aus sind, denn das kann schief gehen oder unvorhergesehene Wirkungen haben und so anderen schaden.

Wenn uns eine solche Lebensminderung widerfährt, dann drängt es uns, die Ursache auszuschalten, und das ist gleichbedeutend damit, das Leben des Schuldners zu mindern. Das kann schwierig sein, uns stark und lange beschäftigen, uns beherrschen und so unser Leben zusätzlich mindern. Und im "Erfolgsfall" mindern wir wieder Leben. Wenn wir von alledem frei sein wollen, müssen wir vergeben, d.h. mit der geminderten Situation weiterleben und von ihr aus startend weiter Leben mehren.

Wenn wir schuldig geworden sind und unser Gewissen das signalisiert, dann belastet uns die Schuld – bewusst oder unbewusst –, und wir werden sie nicht los, wenn wir sie nicht verarbeiten. Wir müssen die Schuld nach Möglichkeit überkompensieren und aus ihr eine Lehre ziehen, wie wir in vergleichbarer Situation künftig eine Minderung des Lebens vermeiden und Leben besser mehren. Und dann müssen wir schleunigst weitermachen mit der Mehrung des Lebens.

Dies alles folgt aus unserer existenziellen Bestimmung, das Leben zu mehren. Der Betroffene muss vergeben, damit er weiter Leben mehren kann. Der Schuldner muss wieder – besser – Leben mehren, und dazu muss er sehen: es ist ihm schon vergeben.

Diese drei Absätze sind die existenzielle Botschaft der fünften Vaterunser-Bitte.

Ratzinger kann uns vor allem den letzten entscheidenden Satz nicht geben: Unsere Schuld ist uns vergeben. Er hat anderes im Sinn: Jesus hat stellvertretend alle Schuld der Welt auf sich geladen und gesühnt, und dadurch ist uns vergeben, wenn wir nur selbst vergeben. Faktisch ist das nicht belastbar, denn auch Aussagen über eine Schuldverwaltung und eine außerordentliche Tilgungsmaßnahme Gottes können wieder nur nichtig sein. Aber existenziell bedeutet dieser Gedanke, dass nicht nur Jesus sondern wir alle in der Welt zu tragen haben, was uns von anderen Menschen her an Lebensminderung angetan wird. Im kleinen: Ein jeder trägt des Anderen Last. Es ist der außerweltliche Gott, der sie uns als Produzent unserer realen Realität absolut unausweichlich begegnen lässt.

 

Und führe uns nicht in Versuchung

 

"Die Formulierung dieser Bitte", so beginnt Ratzinger, "ist für viele anstößig: Gott führt uns doch nicht in Versuchung". Natürlich kann es keine Bitte sein, möchte man ihm zurufen. Aber eine Aussage ist es auch nicht, denn die wäre ebenso nichtig. Existenziell wahr ist allerdings, dass die Versuchungen uns in der Welt begegnen, und dass das, was uns in der Welt begegnet, wie von Gott gefügt ist.

Ratzinger beharrt auf der Semantik als Bitte und schlägt zur Auflösung vor, "Versuchung" durch "Prüfung" zu ersetzen. Gott prüft uns also? Immerhin müssen wir sowieso alle Situationen in der Welt bestehen, gleich wie man sie benennt, und Ratzinger kommt schließlich auch noch zu dem Ergebnis – bei ihm eine Bitte –, dass Gott uns damit nicht überfordert. Wir ergänzen: solange wir leben.

Existenziell bedeutet diese Vaterunser-Bitte also: Wir sind nicht hilflos in die Welt und ihren Versuchungen ausgesetzt sondern mit der Ausstattung, sie bestehen zu können: mit unserer Intelligenz und der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse.

Um den Sinns der Prüfung des Menschen darzustellen, geht Ratzinger näher auf das Buch Hiob ein. Die Geschichte, dass Gott dem Satan eine begrenzte Prüfung des Hiob erlaubt, ist eine schicke, aber existenziell nicht besonders gut zeigende Fiktion (Prüfung versus Coaching). Die wirklich wichtige Pointe des Buches Hiob ist der Ausgang der langen theologischen Diskussion Hiobs mit seinen Freunden: Vierunddreißig Kapitel theologischer Diskurs über die Logik des Wirkens Gottes in Hinblick auf Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Leid werden aufgewogen durch fünf Verse Bekenntnis des Hiob, dass der Mensch Gott nicht begreifen kann und sich mit dem Versuch, Gott begrifflich zu fassen, schuldig macht. Das Buch Hiob ist eine breit angelegte Illustration des Zweiten Gebots.

 

Sondern erlöse uns von dem Bösen

 

Das Böse, von dem wir erlöst werden möchten, umreißt Ratzinger mit folgenden Beispielen: historisch der totale Anspruch auf den Menschen durch militärisch-ökonomische Macht, manchmal auch totale Allmacht, gepaart mit der Zersetzung der sittlichen Ordnungen durch eine zynische Art von Skepsis, und – heutzutage hinzu gekommen – die Mächte des Marktes, des Handels mit Waffen, mit Drogen und mit Menschen, die Versuchungen der Ideologien des Erfolgs und des Wohlbefindens.

Das Böse, das wir tun können und tun, und das uns beherrschen kann, sieht Ratzinger anscheinend von der vorigen Bitte abgedeckt. Er schreibt in diesem Unterkapitel fast nur von dem Bösen, das die Welt uns tut und zeigt, von den "Drangsalen" und der Übermacht der "Übel", die uns in der Welt begegnen, und von denen wir befreit werden möchten, bzw. die uns nichts anhaben können, wenn Gott für uns ist.

Was erlöst uns von diesem Bösen, was macht, dass uns das Böse der Welt nicht beherrschen kann? Die Seligkeit, die wir oben bestimmt haben als Daseinshaltung, in der man mit sich und der Welt, einschließlich aller üblen Phänomene und auch, wenn einen selbst das Übel trifft, im Reinen, locker, erlöst und froh leben kann. Ratzinger kommt dem nahe mit seiner Beschreibung der "Gewissheit" der Martyrer, die "sie getragen und … in einer Welt der Bedrängnis freudig und zuversichtlich sein lassen und sie selbst im Tiefsten 'erlöst', zur wahren Freiheit befreit" hat.

Was erlöst uns davon, dass wir selber Böses wollen und tun? Die Haltung, Leben zu mehren, und die Vergebung.

Wie kommen wir in diese Haltungen: durch den Blick auf das Außerweltliche und die daraus folgende Ausrichtung unserer Daseinshaltung. Auch dem kommt Ratzinger zum Teil nahe, wenn auch erst im letzten Satz: "… in dieser Auslegung der Vaterunser-Bitte bleibt zentral, 'dass wir von Sünden befreit werden', dass wir das Böse als das eigentliche 'Übel' erkennen und dass uns der Blick auf den lebendigen Gott nie verstellt werde".

Ratzinger liefert damit für dieses Unterkapitel eine Auslegung ab, die den existenziellen Inhalt fast komplett erfasst. Dabei lässt er erneut die Gelegenheit aus, sie exklusiv auf Jesus abzustellen, obwohl er doch ein überragendes Vorbild für den Blick auf Gott und für die richtige Daseinshaltung abgibt. Nachfolge Jesu, im Sinne der Übernahme seiner Daseinshaltung, erlöst uns von dem Bösen.

 

Die Textqualität des Vaterunser

 

Wir haben oben behauptet und müssen noch begründen, dass das Vaterunser offensichtlich schlecht geschrieben ist.

Dies wird besonders im Vergleich zu seiner existenziellen Substanz sichtbar. Über die vorangehenden Texte der Bergpredigt hinaus bringt das Vaterunser reichlich und schwergewichtiges Neues:

-        das Urvertrauen, dass unser Dasein wie von einem fürsorglichen Vater gefügt ist,

-        die Einsicht, dass das Außerweltliche begrifflich nicht zu erfassen sondern absolut ist,

-        den außerweltlichen Ursprung des Willens,

-        das Vergeben-Sein der Schuld,

-        das Verfallen an die Welt und der Weg zurück,

-        die verschiedenen "Sichten" auf das Außerweltliche, seine Dimensionen: Reich, Kraft, Herrlichkeit, Ewigkeit (von Ratzinger nicht behandelt).

Als Daseinsgesetze sind das alles Gegebenheiten. Darum zu bitten, ist sinnlos, es ist von vornherein so. Der Textautor weiß das. In dem Vers direkt vor dem Vaterunser qualifiziert er das Bitten indirekt als sinnlos ab, da Gott sowieso schon vorher weiß, was wir bedürfen. Und dann schreibt er doch erst Wünsche und dann Bitten.

Und dann schiebt der Textautor noch zwei merkwürdige Verse nach: "Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben". An diesen Versen ist existenziell alles falsch, was falsch sein kann: "Verfehlungen" sind innerweltlich-moralisch und nicht dasselbe wie existenzielle "Schuld"; man kann nicht aussagen, dass Gott Verfehlungen an- und verrechnet; und es ist sinnlos, Existenziale begründen zu wollen und als begründbar hinzustellen, wie es der "Denn"-Satz unternimmt.

Der einzige erkennbare Sinn dieser semantischen Verbiegungen ist, vom – möglicherweise provokanten – existenziellen Inhalt abzulenken und damit sicherzustellen, dass der Leser nicht ohne Weiteres direkt auf den existenziellen Inhalt stößt und daran Anstoß nimmt, aber gleichzeitig auch erkennbar zu machen, dass mit dem Text etwas nicht stimmt und dahinter noch etwas Anderes – ein "Mehrwert" – steckt. Diesem Phänomen sind wir ja nun bereits mehrmals begegnet, sowohl bei Matthäus als auch bei Ratzinger, und zwar auf zweierlei Weise. Zum einen schreibt er selbst konsequent verhüllend, zum anderen nimmt er Matthäus voll beim Wort und tut nichts, um dessen Schreibtechnik aufzudecken. Man kommt an der Idee nicht vorbei, dass verhüllendes Schreiben für die Vermittlung existenzieller Einsicht tatsächlich kunstgerecht sein könnte. Wir werden dem später noch weiter nachgehen.

 

Die Auslassungen

 

Mit der Bitte um die Erlösung von dem Bösen beendet Ratzinger seine Erörterung der Bergpredigt. Damit übergeht er die Klausel über Reich, Kraft, Herrlichkeit und Ewigkeit, hinter der die Dimensionalität des Daseins steckt, und in der der Ewigkeitsbegriff unbedingt zur Klärung ansteht.

Aber Ratzinger übergeht auch sonst größere Teile der Bergpredigt. Das ist nahe liegend, denn er muss ja ohnehin viele Teile der Evangelien übergehen, und nicht alles trägt zum Ziel seines Buches bei, die Figur des Jesus herauszuarbeiten. Aber nachdem er eine Kapitelüberschrift "Die Bergpredigt" hat, wollen wir doch sehen, wie bedeutsam die Auslassungen hierin sind, und ob er damit nicht wesentlichen "Mehrwert" im Hintergrund hält.

Da sind zum ersten die Verse über "Salz und Licht", u.a. mit der Aufforderung das Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie zeigen einen offenen Widerspruch gegen die verhüllende Religionsverkündigung, wie sie uns ja nun schon mehrfach begegnet ist. Jesus hatte demnach eine andere Auffassung von Verkündigung, und wenn man dies nicht diskutiert, verfehlt man einen charakteristischen Zug seiner Gestalt. Er hat ja tatsächlich Existenz unverhüllt verkündet.

Des Weiteren behandelt Ratzinger die Stellung Jesu zum Gesetz nur übergreifend, und geht auf die konkreten Beispiele nicht näher ein. Dabei übergeht er die Abschnitte zum Töten, Ehebrechen, Schwören, Vergelten, und von der Feindesliebe. Die Folge haben wir oben bereits dargelegt: er projiziert ein höchstes Ethos auf Jesus, findet aber nicht den existenziellen Fortschritt, den Jesus in diesen Abschnitten bringt: die Sicht, dass die Anlage und Bestimmung unseres Daseins keinem innerweltlichen Regelsystem unterliegt sondern die Mehrung des Lebens ist. Die weitere Folge ist, dass Ratzinger von der Negativbelegung des Weltlichen nicht wegkommt, und damit das Existenzial verpasst, dass wir – positiv – in die Welt gesetzt sind, um Leben zu mehren und immer besser mehren zu lernen.

Nach dem Vaterunser folgen in der Bergpredigt noch die Abschnitte über das Fasten, das Schätzesammeln und Sorgen, den Richtgeist, die Gebetserhörung, das Tun des göttlichen Willens, und den Hausbau. Darin exponiert sich Jesus stellenweise sehr stark, so dass sie eigentlich wichtig für ein Profil Jesu sein könnten, abgesehen davon, dass sie existenziell wichtig und erhellend sind:

Die Rede "Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles [d.i. Essen, Trinken, Kleidung] zufallen" besagt ja eigentlich, dass einem in der richtigen Daseinshaltung in der Welt alles zufällt – eine starke Aussage. Der ganze Abschnitt über den Richtgeist behandelt ebenfalls einen wesentlichen Aspekt der richtigen Daseinshaltung. Wie kann Jesus das alles so sehen, wie hat er es gelebt?

Die Warnung "Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen", steht in einem gewissen Konflikt mit der Rede vom Licht unter dem Scheffel. War hier Jesus innerlich schwankend oder will Matthäus nur seine verhüllende Schreibweise rechtfertigen?

Heftig kritisiert Jesus die falschen Propheten: "Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel. Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!" – So eine Abgrenzung sagt doch eine Menge über Jesus aus. Kann man auf ihre Erörterung tatsächlich verzichten, wenn man die Figur Jesus zeichnen will? Wen meint er denn genau? Nur die Scharlatane?

Und schließlich gibt es den Schlusssatz der Bergpredigt "Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten". Ratzinger erwähnt dies zwar auch in der Übersetzung "erschrak" statt "entsetzte", aber er deutet das Erschrecken vor der Lehre auf das Erschrecken vor der Weise zu lehren um. Bei Ratzinger findet man tatsächlich keine Lehre, über die sich das Volk entsetzen könnte. Ist seine Auslegung also mit Jesu Lehre nicht in Übereinstimmung? Oder warum entsetzt sich das Volk? An diesem Schlusssatz kommt man nicht vorbei. Wenn man ihn nicht erklärt, stellt er alles in Frage.


 

6. KAPITEL:  DIE JÜNGER

 

In der Diktion Ratzingers sammelt Jesus durch seine Verkündigung und sein Wirken eine Art neuer "Familie", und er "beruft einen inneren Kern der in besonderem Sinn von ihm Erwählten, die seine Sendung weitertragen und dieser Familie Ordnung und Gestalt geben. In diesem Sinn hat Jesus den Kreis der Zwölf geschaffen".

Ratzinger legt Wert darauf festzustellen, dass man sich nicht selbst zum Jünger machen kann, sondern dass die Jünger göttlich autorisiert sind. Die Berufung der Jünger sei "ein Gebetsereignis; sie werden gleichsam im Gebet gezeugt, im Umgang mit dem Vater. So erhält die Berufung der Zwölf weit über alles bloß Funktionale hinaus einen zutiefst theo-logischen Sinn: Ihre Berufung kommt aus dem Dialog des Vaters heraus und ist dort verankert".

Die Jünger sind aufgrund ihrer Gemeinschaft mit Jesus zu Stammvätern des neu wieder erstehenden Gottesvolkes berufen, und ihre Sendung ist eine priesterliche. Sie haben Jesu Botschaft und damit Jesus selbst zu verkünden, und sie haben "Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten zu heilen".

Ratzinger interpretiert das Austreiben der unreinen Geister dahingehend, dass die Welt durch den christlichen Glauben von der Dämonenfurcht und vom magischen Heilungsspuk befreit wurde, und er nennt das den "große(n) Exorzismus, der die Welt reinigt". Für unsere heutige Weltsicht bedeute das, dass die Welt ohne Gott nur scheinbar rationaler, in Wirklichkeit aber an die Grenzen der Rationalität geführt und "vor Dunkelheiten" gestellt werde. "Nur der Glaube an den einen Gott befreit und 'rationalisiert' wirklich die Welt", mit einer Rationalität, die "aus der ewigen Vernunft" kommt. Nach Hinweis auf gewisse Bedrohungen des Menschen und menschlicher Gemeinschaften in der Welt formuliert Ratzinger die besagte Befreiung so, "dass der Herr uns im Glauben die reine Atemluft zurückgibt – den Atem des Schöpfers, den Atem des Heiligen Geistes, durch den allein die Welt gesunden kann".

Ratzinger spricht noch die Heterogenität der Gruppe der Jünger an, und schließt daraus, dass es schwer gewesen sein muss sie auf ihre Rolle vorzubereiten. Er geht auf einige Besonderheiten in den Berichten des Lukas ein, bei dem es z.B. eine weitere, von Jesus gebildete Gruppe von 70 Jüngern gibt. In deren Zahlensymbolik deute "sich der universale Charakter des Evangeliums an, das allen Völkern der Erde zugedacht ist". Lukas berichtet auch, dass Jesus auch von Frauen begleitet war, "die ihm dienten mit dem, was sie besaßen". Ratzingers Folgerung: "Der Unterschied zwischen dem Jüngersein der Zwölf und dem Jüngersein der Frauen ist offenkundig; beider Aufträge sind durchaus verschieden". Schließlich zeige Lukas neben seiner Offenheit für die Bedeutung der Frauen auch ein besonderes Verständnis für die Juden. Wir "dürfen … überzeugt sein, dass gerade in diesen besonderen Aspekten der lukanischen Überlieferung uns Wesentliches von der ursprünglichen Gestalt Jesu aufbewahrt ist".

Und damit endet bei Ratzinger dieses Kapitel. –

Die Jünger sollen also, kurz gesagt, mit einer ähnlichen Vollmacht wie Jesus das Gleiche verkünden und wirken wie Jesus. Das ist allerdings nichts Besonderes, denn jeder bedeutende oder unbedeutende Religionsstifter sendet routinemäßig Epigonen aus. Es hilft auch nicht weiter, Jesus und seine Erwählung und Aussendung der Jünger, – etwa aufgrund einer Glaubensentscheidung – als einzig wahrhaft göttlich zu attributieren, denn das, was man in der Welt davon sieht, ist trotzdem nichts Besonderes.

Was aber bereitet Jesus die schlaflose Nacht vor der Jüngerberufung? Man muss schon Jesus selbst ansehen, sich in seine Lage versetzen und ihm nachfühlen, wenn man die Besonderheit seiner Lage erkennen will. Wer über die Existenz Bescheid weiß, der weiß auch wie es jemand geht, der über die Existenz Bescheid weiß. So jemand hat jedenfalls sicher nicht deshalb eine schlaflose Nacht, weil am nächsten Tag die Nominierung von ein paar Jüngern ansteht.

Jesus sieht, was es mit Gott, dem Dasein, dem Himmel, der Welt, den Menschen, der Seligkeit auf sich hat, und er weiß um den lebenswichtigen Wert dieser Sicht für jeden Menschen. Er versucht deshalb, den Menschen diese wertvolle Sicht zu vermitteln – und zwar außerordentlich geschickt –, aber er sieht, dass die Menschen um ihn herum Mühe haben ihm zu folgen, dass sie seine Rede missverstehen, ja entsetzt sind, nicht mehr hören wollen, sie bekämpfen. Er sieht, dass er der organisierten Religion des Landes widersprechen muss, sie sich damit zum Feind macht, aber nicht gegen sie ankommt. Er sieht, dass er überragende existenzielle Kompetenz hat, die den Menschen helfen würde, und er sieht gleichzeitig, dass er keine Chance hat, sie ihnen weiterzugeben.

Er sieht sich trotzdem in der Pflicht: Er muss Leben mehren. Er kann seine Verkündigung nicht aufgeben, weil er damit den Menschen Chancen für ihr Heil vorenthielte. Und er muss seine Einsichten für die Menschen nach ihm retten. Sie aufzuschreiben wäre wohl möglich und sie dann vielleicht in mehreren Exemplaren in Sicherheit zu bringen, aber dabei bliebe die Verbreitung ungewiss. Jesus braucht Menschen, um seine Einsichten zu verbreiten.

Was hat er dafür zur Verfügung? Eine Gruppe von Menschen um ihn herum, die seinen Reden unterschiedlich gut folgen können, eher einfache Leute und Menschen aus Randgruppen, nicht ungeeignet etwas aufzunehmen, für das der Intellekt eher hinderlich ist, aber niemand mit der Statur, sie offen zu vertreten und zu verteidigen.

In so einer Situation könnte man schon verzweifeln. Es bleibt einem jedenfalls nichts Anderes übrig, als einen Kreis der relativ am besten geeigneten Begleiter auszuwählen, sie in allen wichtigen Einsichten zu schulen und sie dafür zu trainieren, ihrerseits im größeren Kreis der Begleiter ebenso eine zweite Garde zu schulen und zu trainieren. So kann man kontrollieren, ob es funktioniert, und ggf. nachbessern. Und dann muss man sie noch davor warnen, was ihnen in der Welt mit dieser Verkündigung bevorsteht: eine Leben "wie Schafe mitten unter … Wölfen", und sie verpflichten, vorsichtig zu sein: "klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben". Jesu Hinrichtung war dann die letzte, überdeutliche Warnung.

Die Verbreitung der Inhalte hat funktioniert. Jesus muss an seinen Begleitern exzellente Arbeit geleistet haben, wenn noch Jahrzehnte nach seinem Tod genügend gute Wissensträger vorhanden waren, von denen die Evangelisten das Material für ihre relativ geschlossenen und schlüssigen Darstellungen der Verkündigung Jesu bekamen. –

Dies alles sind nun nicht göttlich-hoheitliche Aspekte der Jüngerberufung, aber dafür werden auf diese Art und Weise, mit existenzieller Empathie, wesentliche, einzigartige Aspekte der menschlichen Gestalt Jesu sichtbar. Wer kommt schon in die Situation der umfassenden Einsicht in die Existenz und stellt sich so konsequent der Pflicht zur Verkündigung!


 

7. KAPITEL:  DIE BOTSCHAFT DER GLEICHNISSE

 

1  WESEN UND ZIEL DER GLEICHNISSE

 

Ratzinger sieht die Gleichnisse als "Herzstück der Verkündigung Jesu" und erörtert zunächst die wichtigsten Auslegungsansätze. Dabei rehabilitiert er in gewissem Umfang die Sicht auf die Gleichnisse als allegorische Reden.

Nun sind "allegorische Rede" und "annähernd zeigende Rede" weitgehend synonym, wobei wir ja schon festgestellt haben, wie entscheidend letztere für das Reden über die Existenz ist. In diesem Abschnitt redet Ratzinger dementsprechend entscheidend über das Reden von der Existenz. Das ist alles sehr substanziell, und daher müssen wir ihn hier etwas reichlicher zitieren als sonst.

Er befasst sich als Nächstes mit dem Verstehen der Gleichnisse, zu dem Jesus eine eigene explizite Äußerung zugeschrieben wird, von der Ratzinger die Markus-Fassung zitiert: "Euch (das heißt: dem Jüngerkreis) hat Gott das Geheimnis der Gottesherrschaft geschenkt; denen aber, die draußen sind, ist alles rätselvoll, auf dass sie (wie geschrieben steht), sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen, es sei denn, dass sie umkehren und Gott ihnen vergebe". Dieses Wort fuße auf einem Zitat von Jesaja: "Verhärte das Herz dieses Volkes, verstopf ihm die Ohren, verkleb ihm die Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht und seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird". Jesaja dokumentiert mit dieser Rede sein Scheitern. Ratzinger verweist auf die Parallele zu Jesu Schicksal am Kreuz: "Aber gerade aus dem Kreuz kommt die große Fruchtbarkeit" und er verweist weiterhin auf ein entsprechendes Johannes-Zitat Jesu: "Dies habe ich in Gleichnissen (in verhüllter Rede) zu euch gesagt; es kommt die Stunde, in der ich nicht mehr in verhüllter Rede zu euch spreche, sondern euch offen den Vater verkünden werde". In diesem Sinne seien die Gleichnisse letztlich Reden von Jesus über sich selbst, "Stationen zum Kreuz hin".

Ratzinger diskutiert aber das Verstehen der Gleichnisse unabhängig von den Bibelzitaten auch grundsätzlich: "Durch das Beispiel rückt er [der Erzieher bzw. Lehrer] eine Wirklichkeit, die bislang außerhalb des Blickfelds der Angesprochenen lag, an ihr Denken heran. Er will zeigen, wie in einer ihrem Erfahrungsfeld zugehörigen Wirklichkeit etwas durchscheint, das sie bisher nicht wahrgenommen haben". Dabei bringe "das Gleichnis das Entferntliegende in die Nähe der Zuhörenden und Mitdenkenden. Andererseits wird der Zuhörer damit selbst auf  den Weg gebracht … das Gleichnis [verlangt] die Mitarbeit des Lernenden". Die Problematik des Gleichnisses sei folgende: "Es kann die Unfähigkeit geben, seine Dynamik zu entdecken und sich von ihr führen zu lassen. Es kann, vor allem wenn es um Gleichnisse geht, die die eigene Existenz betreffen und sie verändern, die Unwilligkeit geben, sich auf die geforderte Bewegung einzulassen", sich zu dem Licht führen lassen, "das unsere Augen nicht ertragen können und dem wir daher ausweichen".

Der Vorwand für diese Verweigerung sei, dass "dem Gleichnis … die nötige Evidenz" fehle. "Gott kann gar nicht durchscheinen – so sagt es der moderne Begriff von Realität …, der die Transparenz des Wirklichen zu Gott hin ausschließt. Als wirklich gilt nur das experimentell Überprüfbare".

Noch zwei Zitate aus Ratzingers letztem Abschnitt: "So sind die Gleichnisse im Letzten Ausdruck für die Verborgenheit Gottes in dieser Welt" und "Denn in der von Sünde gezeichneten Welt ist … die Gravitation unseres Lebens von der Verhaftung an das Ich und das Man gekennzeichnet, die aufgebrochen werden muss auf eine neue Liebe [Gottes], die uns in ein anderes Schwerefeld versetzt und uns so neu leben lässt". –

Das alles heißt: Ratzinger weiß, dass die Gleichnisse annähernd zeigende Rede sind. Er weiß alles über die existenzielle Rede und ihre Dynamik in der Welt. Er weiß, dass existenzielle Rede zeigt, und dass der Zuhörer – statt sie  zu scheuen – versuchen und ggf. sich bemühen muss, das Gezeigte in den Blick zu bekommen. Er weiß, dass dieses existenzielle Sehen eine ganz digitale Angelegenheit ist. Wer es geübt hat und damit existenzielle Kompetenz erworben, für den ist es leicht und selbstverständlich. Wer es von seinem Weltverständnis her angeht, dem bleibt das Außerweltliche sicher verborgen. Wer in der Welt verhaftet ist, kommt nicht nur nicht auf die Idee existenziell sehen zu wollen, sondern weicht systematisch aus.

Ratzinger spricht aber etwas sehr Bedeutsames nicht an: Jesus wechselt zwischen der Bergpredigt und den Gleichnissen das Format seiner existenziellen Rede:

-          in der Bergpredigt, die als Satz von Geboten oder als Gebetsanleitung auf die Person zielende Konfrontation mit der existenziellen Wahrheit, über die das Volk entsetzt ist, und die deshalb von Matthäus so verschleiert wird, dass sie einem auch heute ein Leben lang niemand klar macht, auch Ratzinger nicht, wie wir oben gesehen haben,

-          in den Gleichnissen die von Jesus selbst ansprechend und interessant verpackte existenzielle Wahrheit, frei von jeder Konfrontation, unverbindliche Angebote von Einsichten, auf die sich jeder frei einlassen kann oder auch nicht; Geschichten, die man Schulkindern jederzeit unbedenklich vorsetzt.

Dieses Phänomen kann man bei der Darstellung der Persönlichkeit und Persönlichkeits­entwicklung Jesu nicht ausblenden. Wie im vorigen Kapitel gesehen, hat Jesus sich um das Überleben seiner existenziellen Einsichten in der Zukunft intensiv und mit großem Realismus gekümmert. Dazu gehört seine Methode der mündlichen Intensiv-Überlieferung über Jüngerkreise, und dazu gehört ebenso die Bestimmung des geeigneten Formats für die Inhalte. Er wusste genau Bescheid über die in allen Menschen angelegte Ablehnung, sich mit Existenziellem zu befassen. Und deshalb waren für die Überlieferung die Gleichnisse das Format seiner Wahl.

 


2  DREI GROSSE LUKANISCHE GLEICHNIS-ERZÄHLUNGEN

 

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

 

Dieses Gleichnis versteht fast jeder halbwegs. Wir sollen anderen, die in Not sind, ohne Ansehen der Person helfen, und zwar nicht nur pflichtgemäß, weil es ein Gebot ist. Wir müssen eine Haltung als "Nächster" einnehmen, in der wir alle Menschen gleichermaßen und wie uns selbst als Kinder Gottes wertschätzen, und in dieser Haltung helfen wir aus eigener Entscheidung.

Ratzinger bringt, wie nicht anders zu erwarten, diese Sicht, und er bringt auch die zweite, weniger geläufige, aber ebenso wichtige Sicht: Er weist auf die beraubten Völker unserer Zeit hin und kommt von da zum Thema des "zerschlagenen Menschen" überhaupt. Die Frage liegt dann nahe: Wer oder was hilft, wenn man sich in der Welt nicht mehr helfen kann? Und das Gleichnis antwortet: die Qualifikationen als Religionslehrer und religiöse Regeleinhalter helfen nicht, wohl aber der Entschluss eines beliebigen Menschen einzugreifen. Ratzinger kommt allerdings nicht auf diese Frage, sondern ist gleich bei der Auslegung, dass der Samariter nur das Bild Jesu Christi sein kann, und dass Gott in Jesus Christus der Nächste des entfremdeten und hilflosen Menschen geworden ist.

Letzteres heißt in der rein existenziellen, von der christologischen Hülle befreiten Sicht, dass unser Eigentliches Selbst uns nicht aufgeben lässt, auch nicht in der Not, in der unser innerweltliches Ich nicht mehr helfen kann und sich schon aufgegeben hat.

Jedenfalls berührt Ratzinger auf diese Weise indirekt alles, was an existenzieller Substanz in diesem Gleichnis steckt.

 

Das Gleichnis von den zwei Brüdern und dem gütigen Vater

 

Auch bei diesem Gleichnis kann man wenig fehldeuten. Jeder sieht darin wohl die Lehre, dass wir den Menschen, der sein Leben selbst in den Dreck fährt, trotzdem nicht verachten dürfen, da Gott ihn doch empfängt wie seinen geliebten Sohn. Die meisten werden auch herauslesen, dass wir uns, auch wenn wir in der Welt versagen, vor Gott nicht zu fürchten brauchen, sondern ihm wie sein Sohn willkommen sind.

Die meisten werden den Vater für ungerecht halten, weil er den Versager belohnt und den treuen Sohn nicht. Ratzinger formuliert das als Frage: "Kann, darf ein Vater so handeln?", und die Antwort gibt er auf der Basis von Hosea-Texten: "Gottes Herz verwandelt den Zorn und wendet Strafe in Vergebung". Als annähernd zeigende Reden sind diese Texte so unsinnig, wie wenn man dem Schicksal eine psychische Struktur zuschreiben wollte. Und als Aussagen über Gott sind sie ohne Ansehen des Inhalts von vornherein nichtig.

Weniger verbreitet ist die Erkenntnis, dass die Person des anderen, daheim gebliebenen Sohnes eine ebenso wichtige Rolle spielt. Ratzinger zeigt das schon in seiner Kapitelüberschrift richtig an. Er schreibt diesem Sohn eine gewisse Bitterkeit des Gehorsams zu, die sich darin ausdrücke, dass und wie er sich beim Vater beklagt. Das trägt zwar nicht sonderlich zum Ausgang des Gleichnisses bei, Ratzinger hebt aber dann die Pointe angemessen heraus: Der Vater antwortet, "Mein Kind du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein".

Ratzinger bricht hier die Auslegung des Gleichnisses ab, und wechselt zur Auslegung der taktischen Intention Jesu. Wie schon vor dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird er von Pharisäern und Schriftgelehrten auf die Probe gestellt und rechtfertigt vor ihnen seine "Güte zu den Sündern".

Ratzinger erörtert dann noch alte Auslegungen, die die zwei Brüder auf die Juden und die Heiden generell abbilden, und fällt damit auf die Idee von der Bitterkeit des Gehorsams zurück: Ihre Träger "haben die Wanderung noch nicht durchschritten, die den Jüngeren gereinigt … hat … Sie tragen ihre Freiheit eigentlich doch als Knechtschaft und sind nicht zum wirklichen Sohnsein gereift. Auch sie brauchen noch einen Weg: sie können ihn finden, wenn sie einfach Gott recht geben, sein Fest als ihres mit annehmen. So redet mit dem Gleichnis der Vater durch Christus uns, den Daheimgebliebenen, zu, damit auch wir uns wahrhaft bekehren und unsers Glaubens froh werden".

Das ist zum Schluss eine lobenswerte Mahnung an die Gläubigen. Aber es ist deutlich sichtbar, dass Ratzinger auf einen Zwischengedanken zurückfällt und den Abschluss und Höhepunkt des Gleichnisses nicht auslegt. Was ist denn das "alles", was des Vaters ist, und was auch mein, also eines jeden Menschen sein soll? Wieso nehmen wir es mit Bitterkeit? Wie können wir es richtig nehmen? Worin – inhaltlich – müssen wir Gott recht geben? Was müssen wir in den Blick nehmen, um frei von dieser Bitterkeit unseres Glaubens froh zu werden?

Ratzinger ist die Antwort vorher im Kapitel über das Evangelium vom Reich Gottes und im Abschnitt über die Seligpreisungen schuldig geblieben, und er gibt sie auch hier wieder nicht.

 

Das Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus

 

Das Gleichnis erzählt von einem Reichen und einem armen Kranken vor seiner Tür, dem der Reiche nicht hilft. Nach dem Tod kommt der Arme in "Abrahams Schoß" und der Reiche in eine Art Hölle. Ratzinger legt Wert darauf, dass es der Hades, also ein vorläufiger Ort und nicht die endgültige Hölle ist, meint aber andererseits "dass hier das unwiderrufliche Ende des einen wie des anderen geschildert ist". Der Reiche beklagt sich, dass ihm sein Schicksal während seines Lebens nicht deutlicher erkennbar gemacht worden ist und verlangt von Abraham, dass er wenigstens jemand zu seinen fünf Brüdern sende, um sie zu warnen. Die Antwort ist negativ: er und die Brüder hätten ja Mose und die Propheten, und wenn sie auf die nicht hörten, dann würden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstände.

An diesem Gleichnis ist existenziell nicht viel daran. Der Reiche verpasst die drängende Gelegenheit, das Leben des Armen vor seiner Tür zu mehren, und thematisiert zu seiner Entschuldigung, dass in der Welt jenseitige Folgen nicht zu erkennen sind.

Der Reiche hat absolut Recht. In der Welt kann man nichts über das Außerweltliche wissen. Man kann zwar in den Blick bekommen, dass das Dasein so ist, wie wenn ein Außerweltliches darin wirkt, auf das es verschiedene Sichten gibt. Aber diese Sichten muss man erst einmal selbst gewinnen oder nachvollziehen, und es ist schwierig, den dazu nötigen Abstand von der Welt zu gewinnen. Man kann es eigentlich niemandem vorwerfen, wenn er nicht "aufwacht" und nicht erkennt, dass hinter den unrealistischen Reden der Propheten, und gar hinter ihren Drohungen mit Dingen, von denen sie anscheinend gar nichts wissen können, doch etwas Wichtiges, Nachvollziehbares stecken könnte.

Auch im vorliegenden Gleichnis ist alles, was darin über Jenseitiges ausgesagt wird, reine Fiktion. Aussagen der Art, dass es im Außerweltlichen eine Struktur mit Himmel und Hölle gebe, oder dass unser innerweltliches Verhalten irgendeine Konsequenz im Außerweltlichen habe, sind nichtig. Und wenn ein Prophet so etwas äußert, disqualifiziert er sich – nicht zuletzt auch dafür, sich über seine verstockten Zuhörer zu erheben und sie in die Hölle zu wünschen. Ratzinger bemerkt immerhin, dass man "diesen Teil des Textes nicht pressen" dürfe. Jesus übernehme "die vorgegebenen Bildelemente, ohne sie damit förmlich zu seiner Lehre über das Jenseits zu erheben".

Darüber hinaus stellt Ratzinger das Gleichnis nicht weiter in Frage. Die Jenseitsbilder darin passen aber weder zu der existenziellen Kompetenz, die man an anderen Stellen bei Jesus antrifft, noch zu seinem pädagogischen Geschick, mit frei nachvollziehbaren Bildern Einsichten zu schaffen. Im Zusammenhang mit einem Persönlichkeitsbild müsste man also erklären, was hier wohl zu der Abweichung führt, ob etwa die Zuschreibung des Gleichnisses zu Jesus falsch ist, oder ob Jesus den Vorstellungen seines Auditoriums in Teilen entgegen gekommen ist, um in anderer Hinsicht etwas Wichtiges anzubringen, oder ob er aus verständlicher Frustration über das viele ihm entgegengebrachte Unverständnis nur einmal seinen Emotionen nachgegeben hat, oder ob der Textautor – hier Lukas – wieder einmal schreibtaktisch ein drastisches Bild aufgebaut hat, um eine wichtige Aussage Jesu unbemerkt weiter zu tragen.

Die Auslegung Ratzingers stellt schließlich "das Problem der Zeichenforderung, der Forderung nach größerer Evidenz der Offenbarung" in den Vordergrund: "Das Zeichen Gottes für die Menschen ist der Menschensohn, ist Jesus selbst. Und er ist es zutiefst in seinem Pascha-Mysterium, im Geheimnis von Tod und Auferstehung. Er selbst ist 'das Zeichen des Jona' [drei Tage und Nächte im Inneren der Erde wie Jona im Bauch des Fisches]. Er, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist der wahre Lazarus: Ihm, diesem großen Gotteszeichen, zu glauben und zu folgen, lädt das Gleichnis uns ein, das mehr ist als ein Gleichnis. Es spricht von Wirklichkeit, von der entscheidenden Wirklichkeit der Geschichte überhaupt". –

Jesus kommt im Gleichnis selbst gar nicht vor. Er ist derjenige, der es erzählt. Aber es enthält eine wichtige Information darüber, wie sich Jesus selbst positioniert. Er sagt im letzten Satz, sozusagen als letztes Wort: "Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstände". Ratzinger gibt das mit seinen eigenen Worten so wieder: "Die Antwort Abrahams wie die Antwort Jesu auf die Zeichenforderung seiner Zeitgenossen ist klar: Wer dem Wort der Schrift nicht glaubt, der wird auch einem vom Jenseits Kommenden nicht glauben".

Wenn Jesus das aber so gesehen hat, wenn er so eindeutig der Meinung war, dass die Menschen auch auf einen Auferstandenen nicht hören würden, dass also die Lehrposition des Auferstandenen ineffektiv und somit sinnlos ist, dann wird er sich nicht selbst als künftig Auferstehender positioniert haben. Zumindest war Lukas der Meinung, dass die Positionierung Jesu als Auferstandener sinnlos ist. Ratzinger, konform mit den christologischen Texten in den Evangelien, positioniert Jesus trotzdem ganz betont so, als Zeichen Gottes sichtbar in seiner Auferstehung.

Das ist existenziell fehlleitend. Über Wirkungen Gottes in der Welt, z.B. Zeichen Gottes, kann man nichts aussagen. Menschen haben immer wieder über Erfahrungen berichtet, die sie auf alle Sinne blendende, unbeschreibliche Weise getroffen haben wie kein innerweltliches Erlebnis, und die ihnen die Augen über das Dasein geöffnet haben. Das mag man als persönliche Erfahrung des Absoluten verstehen. Sie mag starke Vorstellungen und Bilder hinterlassen, aber jede Konkretisierung, jede Sagbarkeit würde bedeuten, dass sie kein absolutes Erlebnis war.

Man kann auch einfach mit Abstand von der Welt sehen, dass unser In-der-Welt-Sein so ist, wie wenn es außerweltlich geschaffen und geführt ist, wie wenn ein Außerweltliches uns die Phänomene begegnen lässt, die unsere Welt ausmachen. Die Gesetzmäßigkeiten, die wir in den Phänomenen erkennen, die "Gesetze" der Welt sind unsere Konstrukte. Wir haben die Phänomene dadurch nicht unter Kontrolle, verlassen uns aber (ur-)vertrauend darauf, dass die Gesetze allezeit gelten. Wir müssen jedoch damit rechnen, dass die Phänomene auch einmal anders ausfallen können, als unsere Gesetze vorhersagen, und das heißt dann, dass unsere Gesetze nicht immer stimmen. Ein "Wunder" ist ein Gültigkeitsmangel in den von uns aufgestellten Gesetzmäßigkeiten, und damit eigentlich nichts Verwunderliches. Es kann daher auch nicht als Zeichen für etwas dienen, sondern uns höchstens daran erinnern, dass unsere "Gesetze" immer nur aus begrenzten Phänomenmengen induziert sind und deshalb auch nur begrenzte Vorhersagekraft haben können.

Existenziell gesehen ist also das Eintreten des Unwahrscheinlichen, ja des Naturgesetz­widrigen nichts Besonderes. Wenn Jesus auferstanden ist, dann ist das kein Zeichen, wofür auch immer, und es kann nicht mehr und nicht weniger als Wirkung Gottes angesehen werden, als jedes andere Phänomen, das uns in der Welt begegnet. –

Ein Satz Ratzingers aus diesem Abschnitt sei hier noch interessehalber aufgegriffen: "Die höchsten Wahrheiten können nicht in die gleiche empirische Evidenz gezwungen werden, die eben nur dem Materiellen eigen ist". Das ist eine ziemlich perfekt zeigende, also existenziell wertvolle Rede über unsere Sicht auf das Außerweltliche und die Welt, und wir wissen ja auch nicht erst seit diesem Satz, dass Ratzinger existenzielle Wahrheiten zu Gebote stehen. Aber trotz dieser Vorrede versucht Ratzinger dann anderthalb Seiten später, ein göttliches Zeichen in die empirische Evidenz einer Auferstehung zu zwingen.

Wie nun also möchte Ratzinger verstanden werden? Ist die Positionierung als Auferstandener für Jesus sinnlos oder hängt alles daran? Ist empirische Evidenz für Gottes Wirken unmöglich oder ist Jesu Auferstehung ein Zeichen Gottes?

Erinnern wir uns an die Auslegung des Vaterunser: Matthäus lässt Jesus sagen, Gott wisse und gebe schon vorweg, was wir benötigen, mit der Konsequenz, dass Bitten an Gott eigentlich sinnlos sind, und dann schreibt er doch Bitten. Das ist dieselbe Struktur, wie sie Ratzinger hier bietet. Vorweg steht eine Qualifizierung, sozusagen ein Hinweis darauf, was im Folgenden Meinung des Autors ist, und dann kann er frei auf jede Sicht hin schreiben, die ihm opportun scheint – oder auf die hin er sich vorentschieden hat. Das ganze Buch Ratzingers steht in gleicher Weise unter dem anfänglichen Bekenntnis zur christologischen Hermeneutik, und nicht jeder Satz danach ist mit ihr konsistent.

 

Zur Auswahl der Gleichnisse

 

Im Rahmen seines Buchs beschränkt sich Ratzinger auf drei aussagestarke Gleichnisse Jesu, und da das Angebot solcher Gleichnisse groß ist, ist seine Auswahl kaum zu kritisieren. Trotzdem vermisst man hier bei ihm das Gleichnis von den Talenten. Es illustriert genial den existenziellen Sinn des Daseins: Wir haben Leben zu mehren, durchaus alles Leben, nicht zuletzt das der Anderen aber auch unser eigenes – wie wenn wir am Anfang das Leben bekommen und am Ende eine Bilanz gemehrten minus geminderten Lebens abzuliefern haben. Es ist eine Verdeutlichung der alttestamentlichen Aufträge, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, bzw. sich die Erde untertan zu machen. Es kann die ganze zweite Tafel der Zehn Gebote ersetzen und alles, was man ihr je hinzufügen könnte.

Schon in seinen Erörterungen der "Tora des Messias" erkennt Ratzinger zwar eine erschütternde Höhe des Ethos in den Aufforderungen Jesu und die Nächstenliebe als göttliche Metanorm dahinter, er sieht aber nicht die existenzielle Grundverfassung, dass unser Leben aus der Mehrung von Leben besteht.

Genau dieses Existenzial verfehlt Ratzinger mit der Auslassung des Gleichnisses von den Talenten erneut.

 


 

8. KAPITEL:  DIE GROSSEN JOHANNEISCHEN BILDER

 

1  EINFÜHRUNG: DIE JOHANNEISCHE FRAGE

 

Diese Frage besteht nach Ratzinger aus zwei Fragen: Wer ist der Verfasser dieses Evangeliums? Wie steht es um seine historische Glaubwürdigkeit?

Die Antworten sind: Der Inhalt geht auf den Jünger Johannes, Sohn des Zebedäus, zurück, die Autorenschaft und Redaktion auf eine Art Johannes-Schule in Ephesus, die die Überlieferung des Johannes pflegte. Das Maß der historischen Glaubwürdigkeit ergibt sich aus den persönlichen Erinnerungen des Johannes und den gemeinsam gepflegten Überlieferungen dieser und anderer damaliger Jünger-Schulen und Gemeinden.

Hiernach hat das Johannes-Evangelium den Anspruch, "den Inhalt der Reden, Jesu Selbstzeugnis in den großen Jerusalemer Auseinandersetzungen richtig wiedergegeben zu haben, so dass die Leser wirklich den entscheidenden Inhalten dieser Botschaft und in ihr der authentischen Gestalt Jesu begegnen". Es zeige sich, dass "die Reden Jesu ... die ganze Dynamik der Heilsgeschichte in sich tragen und zugleich in der Schöpfung verwurzelt sind. Sie verweisen letztlich auf den, der von sich einfach sagen kann: Ich bin". –

Daraus kann man nicht auf existenzielle Relevanz schließen, denn Ratzinger meint damit gerade nicht, dass jeder Mensch sagen könne: "ich bin". Ratzinger fragt auch gar nicht erst nach der existenziellen Kompetenz des Johannes und seiner Schule. Die scheint beim Johannes-Evangelium eher zweifelhaft, denn es ist reichlich fixiert auf Zeugnisse für Jesu exklusive Gottessohnschaft und auf Wunder, also auf innerweltliche Phänomene, die mit Gott und unserer Seligkeit nichts zu tun haben können. Es ist aber nicht Sache dieser Kritik, das Johannes-Evangelium in dieser Hinsicht zu analysieren. Wir beschränken uns weiterhin darauf, was Ratzinger in seinen Auslegungen an existenziellem Mehrwert zu bieten hat. Und wir wissen: Die Negation einer existenziellen Rede zeigt fast so gut wie die positive Form. Sie ist sozusagen nur ein Bit entfernt. Jeder Mensch kann von sich sagen: "Ich bin".

 

2  DIE GROSSEN BILDER DES JOHANNES-EVANGELIUMS

 

Ratzinger behandelt hier in je einem größeren Abschnitt die Bilder: "Das Wasser"; "Weinstock und Wein"; "Das Brot"; "Der Hirte".

Wenn man einem großen Bild begegnet, dann bleibt einem der Mund offen stehen, man ist sprachlos; man weiß nicht, warum es groß ist, und man will sich auch gar nicht mit dieser Frage befassen, sondern nur die Wirkung aufsaugen, solange der Effekt anhält.

Davon sind die johanneischen Bilder weit entfernt. Wer spricht schon darauf an, sich selbst als Schaf zu sehen, oder als Weinstock – wenn er überhaupt schon einmal einen gesehen hat –, wer sieht schon im Wasser oder im Brot Analogien zu etwas Geistigem! Auch Erklärungen machen die Bilder nicht ansprechender, im Gegenteil. Statt einzuleuchten bleiben sie befremdlich, und man fragt sich, ob es heutzutage keine tauglichen Bilder gibt, die so eingängig und schlagend sind, wie es die angesprochenen Bilder in ihrer Blütezeit vielleicht gewesen sein mögen.

Ratzinger taugen die Bilder allerdings für etwas Anderes. Er sucht Bibelstellen und neuere Auslegungen zusammen, in denen das jeweilige Bild vorkommt, setzt sie zueinander in Beziehung, und findet dabei Entwicklungslinien, die sich auf Jesus als Gottes Sohn hin führen lassen. Mit ein bisschen Nachhelfen führt dieser Ansatz immer wieder zum Erfolg, und so schwelgt Ratzinger in den alten, befremdlichen Bildern.

Auch mit noch so geschicktem Hantieren von Bildern kann man aber über sie nicht hinaus kommen. Die Bilder sollen anscheinend groß sein, weil sie auf Großes hinführen: Jesus als Sohn Gottes; Jesus gibt sich selbst; durch ihn haben wir Leben in Fülle. Doch sind diese Reden nicht per se "groß", sondern – wie schon erläutert – nur, wenn man sie relativiert. Ratzinger präsentiert die Zielpunkte seiner Linien immer als endgültig gemeinte Aussagen, aber so gut wie nie als absolut.

Und so erübrigt sich eine systematische Mehrwert-Suche in den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels. Wir illustrieren nur an einigen, wenigen Beispielen, in welchem Maße die existenzielle Sicht hier zu kurz kommt.

Im Anschluss an die Szene am Kreuz, als nach dem Lanzenstich eines Soldaten Blut und Wasser aus der Wunde Jesu fließen, assoziiert Ratzinger damit Eucharistie und Taufe. Er betont die Wichtigkeit des Bluts in diesem Zusammenhang und schreibt dann von einem "Christentum, das sozusagen das Wort aber nicht Fleisch und Blut will. Der Leib Jesu und sein Tod spielen letztlich keine Rolle. So bleibt nur 'Wasser' übrig vom Christentum – das Wort ohne die Leiblichkeit Jesu verliert seine Kraft. Christentum wird bloße Lehre, bloßer Moralismus und Sache des Intellekts, aber Fleisch und Blut fehlen ihm. Der erlösende Charakter von Jesu Blut wird nicht mehr angenommen. Er stört die intellektuelle Harmonie". – Als ob das, was die katholische Kirche über Fleisch und Blut und Leib Christi auszusagen hat, nicht auch nur bloße Lehre wäre, existenziell nichtig und ohne Relevanz. Und als ob unsere Existenz in irgendeiner Weise von den schlechten Bildern abhinge, die von der Sicht auf sie – die Existenz – ablenken.

Sehen wir uns nur die Reden vom Fleisch näher an! In der Welt begegnet uns unser Körper, von "außen" als Gegenstand, den wir wie andere Gegenstände sinnlich wahrnehmen können, und von "innen" als Komplex von sensorischen Empfindungen und willentlich steuerbaren Objekten. Dies ist die Welt unseres Körpers. Sie ist eine neben vielen anderen Welten, die uns ebenso erschlossen sind: die Welt unserer Antriebe, Hemmungen und Regelungen, die Welt unserer Gedanken, die Welt unserer Familie, die Welt unseres Berufs, die Welt der Nachbarschaft und der Gemeinde, die Welt der Speisen und Getränke, die Welt der Gesundheit, die Welt des Geldes, die Welt der Erziehung, die Welt der Musik, die Welt der Literatur, die Welt des Wissens, u.v.a.m. Diese unsere Welten sind jeweils davon bestimmt, inwieweit wir sie verstehen und darin verstehend agieren können. Von vielen verstehen wir mehr als von unserem Körper. Zusammen bilden sie unsere jeweilige persönliche Welt. Sie ist alles was wir gewesen sind, sind und sein können, und damit unsere innerweltliche Identität. Mit unserem Tod ist diese persönliche Welt zu Ende.

Jesus ist als Gottes Sohn eine solche innerweltliche Person geworden, und solch eine Welt hat Jesus mit seinem Tod aufgegeben. Welch ein mickriges Bild hierfür ist "das Fleisch"! Von welch einer unzulänglichen Sicht auf das Dasein soll das Christentum abhängig sein! Wie gedankenlos ist die Rede von der Auferstehung des Fleisches, da es doch um die Frage nach der Auferstehung unserer ganzen persönlichen Welt geht! Was soll es nützen, ständig einen kleinen Teil der nicht als besonders überlieferten Körperwelt Jesu, sein Blut, als erlösend in die Gegenwart heraufzubeschwören, wenn der viel größere, auch heute noch überragende Teil seiner faktisch erlösenden Gedankenwelt ohnehin präsent und zugänglich ist!

Was soll der Begriff des Wassers zu dem Geist, der unsere unüberschaubare persönliche Welt als reiches Geschenk Gottes sehen kann, anderes beitragen als ihn katastrophal zu verwässern. Wie soll der Begriff "Brot" sinnvoll zusammenfassen, wovon wir leben, wenn in Wirklichkeit die ganze persönliche Welt, wie Gott sie uns "live" schafft, unser Leben ausmacht!

Was nicht angenommen wird, ist weltfremde Sprache – nicht weil sie intellektuelle Harmonie stören würde, sondern weil sie an jedermann vorbeiredet. Was ernstlich stören würde, wäre die Vergegenwärtigung der Folter und brutalen Hinrichtung Jesu, so dass sie die Menschen existenziell berührt. Aber das vermeidet die Liturgie ja gerade mit ihren emotional und sensorisch weit von Fleisch und Blut entfernten Gaben der Eucharistie. –

Gegen Ende des Unterkapitels über das Wasser diskutiert Ratzinger den biblischen Ausdruck: "aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen" und speziell die Frage "Aus wessen Leib?", und er antwortet natürlich: aus Jesu Leib und von ihm seither durch die Zeiten der Geschichte. Danach revidiert er diese Antwort: "Diese zentrale Deutung auf Christus muss ... nicht ausschließen, dass das Wort in abgeleiteter Weise auch für die Gläubigen gilt". Das untermauert er erst durch ein Jesus-Zitat aus dem Thomas-Evangelium: "Wer aus meinem Munde trinkt, der wird werden wie ich" – nimmt es dann aber doch wieder ein Stück zurück: "... immer bleibt dabei im Letzten Christus selbst die Quelle ...".

Lassen wir einmal alle Begriffsverswirrung außer Acht. Bei Thomas steht "wie ich", und wenn im Letzten Christus "selbst die Quelle" ist, dann ist derjenige, der "wie ich", also wie Christus ist, auch "selbst die Quelle". Existenzielle Kompetenz ist immer so rar, dass jeder, der darüber verfügt, sich verpflichtet fühlen wird, sie weiterzugeben, egal aus welcher Quelle er sie hat. –

Im Hirten-Unterkapitel führt Ratzinger ein alttestamentliches Wort an, das Jesus im Matthäus-Evangelium aufgreift: "Ich will den Hirten erschlagen, dann werden sich die Schafe zerstreuen". Später schreibt Ratzinger dazu: "Die späte Prophetie Israels schaut ... den Hirten, der zum Lamm wird", und er erwähnt weitere Stellen mit dem Lamm-Bild.

Gerade das Johannes-Evangelium berichtet immer wieder, dass die jüdischen Autoritäten versuchten, Jesus zu verhaften, dass er entkam, dass er in andere Landesteile auswich. So ganz ahnungslos vertrauensvoll wie ein Lamm wird er sich demnach wohl nicht seiner Hinrichtung ausgesetzt haben. Wir haben oben schon diskutiert, wie Jesus die Weitergabe seiner existenziellen Kompetenz an möglichst viele Menschen geplant haben könnte, und das Zitat von den zerstreuten Schafen wirft die Frage auf, in welchem Maße er seinen Tod und die Folgen kalkuliert und gegebenenfalls instrumentiert hat.

Er hat sich ja anscheinend vorgenommen, für seine Lehre einzustehen, auch wenn das sein Leben kostet. Hat er in Folge dessen einen Märtyrer-Effekt angestrebt, um damit seiner Lehre zu größerer Beachtung und größerem Zuspruch zu verhelfen? Er hat gesehen, dass seine Jünger und deren Schüler fliehen müssten, wenn er hingerichtet würde, und dass seine Lehre dadurch von vornherein weiter gestreut würde. Hat er dies nur in Kauf genommen oder hat er es aktiv betrieben und seine Jünger eventuell darauf vorbereitet? – Antworten hierauf sind im Hinblick darauf interessant, wie es einem existenziell kompetenten Menschen in der monokulturellen Gesellschaft ergehen kann. Für ein Persönlichkeitsbild Jesu, das Ratzinger am Anfang in Aussicht gestellt hat, sollten solche Antworten eigentlich unerlässlich sein.

 


 

9. KAPITEL:  ZWEI WICHTIGE MARKIERUNGEN AUF DEM WEG JESU: 
    PETRUSBEKENNTNIS UND VERKLÄRUNG

 

1  PETRUSBEKENNTNIS

 

Jesus fragt die Jünger, wer er aus der Sicht der Leute und aus ihrer, der Jünger Sicht sei. Die Leute halten ihn für Johannes den Täufer, für Elija oder einen anderen, wieder erstandenen Propheten, speziell auch für Jeremia. Für die Jünger antwortet Petrus, je nach Evangelisten, Jesus sei der Messias; der Christus Gottes; der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes; der Heilige Gottes.

Ratzinger sieht die damalige Außenerkenntnis Jesu von der Erwartung Israels und den vorhandenen Kategorien von Hoffnungsträgern bestimmt. Diese Meinungen seien nicht notwendig falsch, aber doch unzulängliche Annäherungen an Jesu Neuheit. In gleicher Weise ordnet Ratzinger auch zeitgenössische Sichten auf Jesus ein, etwa "die Meinung der 'Leute', die Christus irgendwie kennengelernt, ihn vielleicht wissenschaftlich studiert haben, aber ihm nicht selbst in seinem Eigenen und ganz Anderen begegnet sind", ferner die Gleichstellung Jesu mit Sokrates, Buddha und Konfuzius, und schließlich die gängige Einstufung Jesu als eine der großen Gründergestalten der Welt, denen eine tiefe Gotteserfahrung geschenkt worden ist. "So können sie anderen Menschen, denen diese 'religiöse Begabung' versagt ist, von Gott erzählen, sie sozusagen in ihre Gotteserfahrung mit hineinnehmen. Aber dabei bleibt dann doch bestehen, dass es sich eben um eine menschliche Gotteserfahrung handelt, die Gottes unendliche Wirklichkeit im Endlichen und Begrenzten eines menschlichen Geistes spiegelt und damit immer nur eine partielle, auch durch den Kontext von Zeit und Raum bestimmte Übersetzung des Göttlichen bedeutet".

Daran ist einiges direkt falsch. Nichts kann eine "Übersetzung des Göttlichen" sein. Das Außerweltliche ist nicht begrifflich, man kann ihm keine Struktur zusprechen, und daher gibt es nichts zu übersetzen. Überhaupt kann einem das Außerweltliche per definitionem nicht in der Welt begegnen, man kann es nicht "erfahren". Der menschliche "Geist" ist zwar nicht ganz so begrenzt, wie Ratzinger es anklingen lässt, sondern wir sind existenziell so angelegt und es daher dem Leben schuldig, dass wir morgen etwas verstehen, was wir heute noch nicht verstehen. Aber das erschließt uns immer nur Welt und nichts Außerweltliches.

Das schließt nicht aus, dass Menschen Wirkungen erleben, von denen sie dann wissen: das war absolut, nicht von der Welt her. Davon wird nicht oft, aber immer wieder und glaubwürdig berichtet. Diese Wirkung ist ohnegleichen und daher nicht zu beschreiben, aber sie kann das Leben der Betroffenen so klar machen und so zum Guten verändern, dass sie das unbedingt anderen weitergeben müssen, obwohl es dafür keine Begriffe gibt. Die Versuchung, ist dann riesig, statt der unsagbaren Wirkung die daraus folgenden gut sagbaren Sichten und Rezepte für das bessere Leben zu propagieren, und die sind wirklich "durch den Kontext von Raum und Zeit bestimmt". Göttlich ist daran aber nichts, und eigene Gotteserfahrungen sind durch nichts zu ersetzen.

Dass die Religionsgemeinschaften die Gotteserfahrungen in ihrem jeweils eigenen Bereich für die richtigen und die in den Bereichen der anderen als letztlich falsche Spiegelungen des menschlichen Geistes klassifizieren, ist nicht anders zu erwarten. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass sie wirklich taugliche Unterscheidungskriterien erarbeiten. Es gibt aber ein absolutes Kriterium: Die begriffliche Beschreibung einer Erfahrung beweist immer, dass sie keine Gotteserfahrung ist oder war.

Wir merken hier nur noch an, dass man kein schlagendes Gotteserlebnis braucht, um kompetent über das Dasein und das Außerweltliche zu reden. Man muss "nur" sein Dasein in den Blick nehmen. –

Das Bekenntnis der Jünger, ausgesprochen von Petrus, beruht nach Ratzinger auch auf einigen Schlüsselerlebnissen. In der Geschichte vom reichen Fischfang fällt Petrus nach eben diesem Fang Jesus zu Füßen, weil "er die Macht Gottes selbst erkannt [hat], die durch das Wort Jesu wirkt, und diese direkte Begegnung mit dem lebendigen Gott in Jesus erschüttert ihn zutiefst". In der Erzählung vom Gang über das Wasser fallen, nachdem sich der Sturm gelegt hat, die Jünger im Boot vor Jesus nieder; "dies ist Erschrecken und Anbetung zugleich. Und sie bekennen: 'Du bist Gottes Sohn' ... In solchen und ähnlichen Erfahrungen, die sich durch die Evangelien hindurchziehen, findet das Petrusbekenntnis ... seine Grundlage. In Jesus war in verschiedenen Weisen den Jüngern immer wieder die Gegenwart des lebendigen Gottes selbst spürbar geworden".

Ratzinger hat – aus seiner Sicht vielleicht richtig, aber in diesem Zusammenhang unglücklicherweise – aus dem Johannes-Evangelium nur die Bilder behandelt, z.B. aber die vielen unübersehbaren Stellen nicht aufgegriffen, an denen Jesus den Leuten, die ihm zulaufen, vorhält, dass sie nur wegen der Wunder kämen und an ihn glaubten, während sie seine Reden, mit denen er ihnen den Weg zur Seligkeit zeigen wolle, nicht verstünden.

Wir fechten hier nicht mit Bibelzitaten, aber Ratzinger müsste doch zumindest erklären, wieso er ein Petrus-Bekenntnis auf der Basis von Wundern bedenkenlos akzeptiert, wenn Jesus derlei eigentlich als Fehlorientierung sieht. In unserer Kritik müssen wir hier jedenfalls wiederholen, dass aus existenzieller Sicht Wunder nichts bedeuten, schon gar nicht etwas Göttliches. Jede Lehre, die aus Wundern Bedeutsamkeit abzuleiten versucht, macht sich damit von vornherein unglaubwürdig. –

Nach der Antwort des Petrus, Jesus sei für die Jünger der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, geschehen noch einige interessante Dinge, die Ratzinger kurz anspricht: Jesus verbietet den Jüngern, ihre Sicht den Leuten weiterzusagen. Er kündigt ihnen an, dass er gefoltert, von den Ältesten und Hohepriestern verurteilt, gekreuzigt werden und am dritten Tage wieder auferstehen würde. Petrus protestiert, und Jesus beschimpft ihn daraufhin als "Satan" und erklärt, das sei menschlich und nicht göttlich gedacht.

Wir hatten oben schon gefragt, wie planvoll Jesus in seinen Prozess hineinging, dessen Folgen er sicher voraussehen konnte. Ratzinger schreibt dazu, dass Jesus die "allgemeine Verbreitung dieses Bekenntnisses [des Petrus] verbietet, das in der Öffentlichkeit Israels in der Tat missdeutet worden wäre und einerseits zu falschen Hoffnungen auf ihn, andererseits zu einem politischen Prozess gegen ihn hätte führen müssen".

Sowohl das Verbot der Verbreitung als auch die Zurechtweisung des Petrus zeigen, dass Jesus recht konsequent dafür gesorgt hat, dass er über den Einstieg in den Prozess die Kontrolle behält. Das wiederum zeigt, dass er genau und hart geplant hat, und dabei auch in Kauf genommen hat, seine Jünger in Schwierigkeiten zu bringen. Er hat gewusst, dass seine Jünger "verstreut" würden.

Petrus sieht jetzt, dass ihn Jesus mit seinem Plan ebenso wie die anderen Jünger der Verfolgung aussetzen wird. Er muss sich verraten fühlen. Die Struktur von Jesu Antwort darauf ist: "Bist Du des Teufels? Eben hast du gesagt, ich sei Gott. Wenn du gegen meinen Plan bist, müsstest du dich nun entsprechend als Satan sehen. Ich sehe meinem Schicksal der Kreuzigung ins Auge, dann kannst Du deinem der Verfolgung auch ins Auge sehen. Sonst bist du jedenfalls kein Nachfolger". Wenn Jesus sich bei dieser polemisch-zynischen Antwort unter Kontrolle hatte, dann ist sie ein bewusst kalkulierter Test der Härte des Petrus. Sie enthält jedenfalls zwei dicke, existenzielle Fehler: Ein innerweltliches Objekt, wie es ein Plan nun einmal ist, kann nicht göttlich sein, und deswegen kann man getrost dagegen sein. Und es ist zwar menschlich, existenzielle Fragen zu scheuen und nicht "göttlich", d.h. vom Eigentlichen Selbst her, zu denken, aber es ist nicht böse und verdient keine Verurteilung. Außerdem muss Jesus sich dessen bewusst gewesen sein, dass er mit seinem Plan zur Ursache einer Lebensminderung der Jünger und damit schuldig wird. Man sieht das auch daran, dass er ihnen einen "Tröster" zu senden verspricht, der allerdings auch "nur" wieder dazu hilft, das geminderte Leben positiv zu sehen.

Ratzinger sagt nichts von alledem, obwohl es ja doch den Menschen Jesus in einer entscheidenden Situation hervorragend charakterisieren könnte. Man muss dem hier vorgeschlagenen Verständnis der Gesprächsdynamik nicht folgen und kann durchaus ein anderes präsentieren, aber wenn man nur darauf aus ist, dass und wie hier Gott spricht, womit dann alles gesagt sei, dann können keine Züge einer Persönlichkeit sichtbar werden.

Jesus war im typischen Dilemma des existenziell kompetenten Menschen. Er wurde angefeindet, und wusste, dass er alle, denen er zu existenzieller Kompetenz verhelfen würde, einer ähnlichen Anfeindung aussetzen würde. Er hatte dann die Wahl, einerseits sich zurückzunehmen, und insbesondere das Heil der ihn ohnehin kaum verstehenden Menschheit den Fügungen Gottes zu überlassen, oder andererseits die Verbreitung seiner existenziellen Einsichten trotzdem mit allen ihm verfügbaren Mitteln und unter Einsatz seines Lebens anzustreben und die innerweltliche Verschonung der Schüler zu allen Zeiten den Fügungen Gottes zu überlassen. Er hat die zweite Option gewählt, und sie erforderte äußerste Motivation und nüchterne Berechnung.


2  DIE VERKLÄRUNG

 

Die Legende, um die es hier geht, ist schnell erzählt. Jesus geht mit drei Jüngern auf einen hohen Berg, um zu beten. Oben fängt sein Gesicht "wie die Sonne" zu strahlen an, und seine Kleider werden "weiß wie das Licht". Mose und Elija erscheinen und sprechen mit Jesus über seinen "Ausgang", den er in Jerusalem erfüllen sollte. Die Jünger sind von allem ganz benommen, aber Petrus redet trotzdem und bietet an, für Jesus und seine Gesprächspartner drei Hütten zu bauen. Da kommt aber eine Wolke und wirft einen Schatten auf sie, und aus der Wolke ruft eine Stimme: "Dies ist mein geliebter Sohn, auf ihn sollt ihr hören". Beim Abstieg fragen die Jünger Jesus nach der Wiederkunft des Elija, und Jesus antwortet: "Ja, Elija kommt zuerst und stellt alles wieder her. Aber warum heißt es dann vom Menschensohn in der Schrift, er werde viel leiden und verachtet werden? Ich sage Euch, Elija ist schon gekommen, doch sie haben mit ihm gemacht, was sie wollten, wie es in der Schrift steht".

Dies ist nun alles voller Symbolik und voller Bezüge, die Ratzinger ausführlich erklärt. Zuerst geht er zeitlichen Zusammenhängen mit dem jüdischen Festkalender nach. Das Petrusbekenntnis fand demnach am Jom ha Kippurim statt, einem großen Versöhnungsfest, an dem das einzige Mal im Jahr der Hohepriester feierlich den Namen JHWH im Allerheiligsten des Tempels aussprach. Die Verklärung Jesu fand ein paar Tage später am letzten Tag des Laubhüttenfestes statt, dessen Hütten als Vorausdarstellung der göttlichen, ewigen Zelte gemeint waren, in denen die Gerechten in der messianischen Zeit wohnen würden. Mit der Verklärung soll also der Beginn der messianischen Zeit symbolisiert werden.

Zum Stichwort vom hohen Berg fallen Ratzinger gleich wieder eine Menge anderer biblischer Berge ein, vom Sinai, Horeb und Morija bis zum Ölberg, zum Berg der Kreuzigung und zum Berg der Jüngeraussendung.

Den Bericht von der Verklärung selbst übersteigert Ratzinger wie folgt: "Die Verklärung Jesu ist ein Gebetsereignis; es wird sichtbar, was im Reden Jesu mit dem Vater geschieht: die innerste Durchdringung seines Seins mit Gott, die reines Licht wird. In seinem Einssein mit dem Vater ist Jesus selbst Licht vom Licht. Was er zuinnerst ist und was Petrus in seinem Bekenntnis zu sagen versucht hatte – das wird in diesem Augenblick auch sinnlich wahrnehmbar: Jesu Sein im Licht Gottes, sein eigenes Lichtsein als Sohn". Da es von Mose eine ähnliche Geschichte gibt, betont Ratzinger sogleich den Unterschied: "'Während Mose vom Berg herabstieg, wusste er nicht, dass die Haut seines Gesichts Licht ausstrahlte, weil er mit dem Herrn geredet hatte' ... Durch das Reden mit Gott strahlt Gottes Licht auf ihn und macht ihn selber strahlend. Aber es ist sozusagen ein von außen auf ihn zukommender Strahl, der ihn nun selber leuchten lässt. Jesus aber strahlt von innen her, er empfängt nicht nur Licht, er ist selber Licht vom Licht".

Wenn Mose und Elija mit Jesus über seine Kreuzigung reden, dann findet Ratzinger darin den Bezug zum Exodus: "Das Kreuz Jesu ist Exodus – Heraustreten aus diesem Leben, Hindurchgehen durch das 'Rote Meer' seiner Passion und Hinübergehen in die Herrlichkeit, in die freilich immer die Wundmale eingezeichnet bleiben ... Mose und Elija sind Passionsfiguren und Passionszeugen. ... indem sie mit dem Verklärten darüber sprechen, wird sichtbar, dass diese Passion Rettung bringt; dass sie von der Herrlichkeit Gottes durchdrungen ist, dass die Passion verwandelt wird in Licht, in Freiheit und Freude".

Aus der Antwort Jesu auf die Frage der Jünger nach der Wiederkehr des Elija liest Ratzinger ab, dass Jesus im Stillen den wiederkommenden Elija mit Johannes dem Täufer identifiziert. Im Wirken des Täufers sei die Wiederkehr des Elija erfüllt.

Und dann die Wolkenszene: "Die heilige Wolke, die Schechina, ist das Zeichen der Gegenwart Gottes selbst. Die Wolke über dem Offenbarungszelt [des Mose] zeigte Gottes Gegenwart an. Jesus ist das heilige Zelt, über dem die Wolke der Gegenwart Gottes steht und von dem aus sie nun auch die anderen 'überschattet'. Die Szene der Taufe Jesu wiederholt sich, in der der Vater selbst Jesus aus der Wolke heraus als Sohn proklamiert hatte: 'Du bist mein Sohn, der Geliebte. An dir habe ich Wohlgefallen'". Zu dieser feierlichen Proklamation der Sohnschaft tritt nun aber der Imperativ hinzu: "Auf ihn sollt ihr hören".

Der letzte Satz trifft schwer. Aber Ratzinger erklärt trotzdem ruhig weiter: "Mose hatte auf dem Berg die Tora, Gottes weisendes Wort empfangen. ... Jesus ist die Tora selbst". Er geht auf ein "dunkles" Jesus-Wort ein, das bei Markus zwischen dem Petrus-Bekenntnis und der Verklärungserzählung eingeschaltet ist: "Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht kosten, bis sie die Herrschaft Gottes sehen, gekommen mit Macht". Diese Sicht auf die Herrschaft Gottes erfahren sie in der Verklärungsszene. Aber sie erfahren auch den Zusammenhang mit der Kreuzigung: "Diese 'Macht' (dýnamis) des kommenden Reiches erscheint ihnen im verklärten Jesus, der mit den Zeugen des Alten Bundes von dem 'Muss' seines Leidens als Weg zur Herrlichkeit spricht. ... So erleben sie die antizipierte Parusie; so werden sie langsam in die ganze Tiefe des Geheimnisses Jesu eingeführt". –

Was sollen wir? Auf Jesus hören, und demnach nicht auf: Mose, Propheten, Zeugnisse, Zeugnisse von Zeugnissen, Beschreibungen, Zuschreibungen, Kirchenväter, Kirchenführer, Theologen, Auslegungen, jedenfalls nicht, solange sie ihr Eigenes und nicht Jesu authentische Reden behandeln. Und hören sollen wir, nicht schauen: nicht auf Jesu Äußeres, sein Verhalten, seinen Lebenslauf, nicht auf Ereignisse, Geheimnisse, Schlüsselerlebnisse, Wunder, Erscheinungen mit Licht und Wolken, Festkalender, Berge, feingewebte Bezüge von Bibelstellen, große Bilder.

Wir haben ja oben schon gesehen, dass der Matthäus-Autor ein durchaus schlitzohriger Schreiber war. Aber dies ist ein starkes Stück. Da schreibt er eine Verklärungsszene mit aller gehörigen Großartigkeit, und dann zieht er ihr im letzten Satz den Boden weg, aber in einer Weise, dass man es glatt überlesen kann: Die ganze Großartigkeit zählt nicht. Was Jesus sagt, das zählt.

Matthäus muss anscheinend auf ein erwartungsvolles Publikum hin schreiben, das in dem Sinne unverständig ist, wie Jesus es schon beklagt hat, und so schreibt er eine überirdische, Jesus überhöhende Szene. Er tut das kunstgerecht, aber er schafft es auch, sozusagen als letztes Wort einen vernichtenden Satz unterzubringen, der sehr wohl signalisiert, worauf es aus seiner Sicht ankommt, und der aber gleichzeitig für das Publikum als göttliche Autorisierung stimmig und damit unauffällig ist.

Auch für Ratzinger ist der letzte Satz stimmig: Jesus ist die neue Tora, das neue göttliche Gesetz für die Menschen. Darauf sollen wir hören. Aber das behandelt natürlich nicht, was Jesus sagt, sondern trimmt ihn nur auf eine bestimmte Sicht hin.

Auf ihn sollt ihr hören! Das heißt: was wirklich zählt, sind authentische Verkündigungen Jesu. Diese Erkenntnis braucht keine göttliche Autorisierung. Wir haben oben vorgeführt, dass man mit ein wenig Vorwissen über das Dasein an die Reden Jesu herangehen kann und dann erkennen muss, dass er vermutlich über mehr existenzielle Kompetenz verfügt hat als alle anderen Daseinslehrer aller Zeiten.

Da weiß einer von A bis Z, wie unser Dasein ist und wie man selig wird. Aber seine Erkenntnis wird in ein paar Jahrzehnten "entschärft", angepasst und umgebaut, und das Resultat wird über Jahrtausende gepflegt, erweitert und dekoriert. Und wären nicht ein paar raffinierte Evangelisten gewesen, die mit großem Geschick – für das vorgeprägte Publikum unauffällige – Hinweise auf die Manipulationen eingebaut hätten, dann müsste man heute tatsächlich meinen, man hätte Jesu Religion in Reinform vor sich.

So ist es heute zwar vielleicht schwierig zu erkennen und zurückzugewinnen, was authentisch von Jesus ist, und es von nicht Authentischem zu unterscheiden. Aber es ist nicht unmöglich, und es gibt zwei Hilfsmittel, mit denen man Abraum im großen Stil auf die Seite räumen kann: Das Zweite Gebot hilft die vielen Aussagen über Außerweltliches und die daraus abgeleiteten Aussagen als nichtig auszusondern. Und das Ziel, auf Jesus selbst zu hören, erlaubt es, weiterhin alles außer Acht zu lassen, was nicht als Äußerung Jesu dokumentiert ist.

Auf Jesus hören muss man dann allerdings auch noch wollen und können.

 


 

10. KAPITEL:  SELBSTAUSSAGEN JESU

 

In diesem Kapitel hört Ratzinger auf Jesus. Er befasst sich damit, wie Jesus von sich selbst spricht. Und auch die Frage der Authentizität kommt auf den Tisch.

Gegenüber den Jesus von außen zugesprochenen und zugeschriebenen, christologischen Hoheitstiteln "Christus (Messias)", "Kyrios (Herr)" und "Sohn Gottes" gebrauchte Jesus selbst fast nur die Bezeichnungen "Menschensohn" und "Sohn". Das Johannes-Evangelium legt Jesus an einigen Stellen die Bezeichnung "Sohn Gottes" in den Mund. "Messias" benutzte Jesus nie, und er verbot den Jüngern die Benutzung.

 

1  DER MENSCHENSOHN

 

Ratzinger verweist gleich auf die strittige Debatte um das Verständnis der Menschensohn-Worte Jesu. Es gibt eine Klassifizierung in drei Gruppen: Worte über den kommenden Menschensohn, Worte über das irdische Wirken des Menschensohns – z.B. von der Vollmacht zur Sündenvergebung –, und Worte vom Leiden und Auferstehen des Menschensohns.

Ratzinger stößt sich daran, dass die Ausleger überwiegend dahin tendieren, allenfalls die erste Gruppe als authentisch anzusehen. Dies bedeute, dass die Ausleger Jesus keine wirklichen Hoheitsaussagen und Passionsaussagen zutrauen. Jesus müsse aber Dramatisches gesagt haben, weshalb man ihn an die Römer auslieferte. Das könne Jesus nicht alles erst nachträglich zugeschrieben worden sein: "Der anonymen Gemeinde wird eine erstaunliche theologische Genialität zugetraut. Wer waren eigentlich die großen Gestalten, die solches er-fanden. Nein, das Große, das Neue und Erregende kommt gerade von Jesus; im Glauben und Leben der Gemeinde wird es entfaltet, aber nicht geschaffen. Ja, die 'Gemeinde' hätte sich gar nicht erst gebildet und überlebt, wenn ihr nicht eine außerordentliche Wirklichkeit vorausgegangen wäre".

Ratzinger hat bereits im Vorwort in diesem Sinne argumentiert, und wir haben dort schon darauf hingewiesen, dass Jesu Lehre allein reichte, um das Volk und die Tempelaristokratie gegen ihn total zu mobilisieren.

Was die Erfindungshöhe betrifft, so beweist ja Ratzinger selbst sein ganzes Buch hindurch mit jeder Parallele zwischen einem Wort oder einer Tat Jesu und einem entsprechenden alttestamentlichen Archetypen, dass das Material über den erwarteten jüdischen Gottkönig reichlich vorhanden war und mühelos auf Jesus hin angepasst oder auch hingebogen werden konnte. Dass die Evangelisten mit allen schriftstellerischen Wassern gewaschen waren, hat uns in dieser Kritik wiederholt angesprungen.

Wie die Gemeinde funktionieren konnte, haben wir ansatzweise auch bereits aus Dialogen Jesu mit den Jüngern entnommen. Jesus hat sich in Sorge um die Erhaltung und Verbreitung seiner Einsichten darum gekümmert, mit einer Kerngruppe beginnend, möglichst viele Jünger und Anhänger als Wissensträger aufzubauen und für die mündliche Weitergabe zu befähigen. Er hat vorausgesehen, dass diese Wissensträger "verstreut" würden und sie deshalb zur Vorsicht und Schläue angehalten, er hat Petrus vergattert, die Verbindung der Verstreuten sicherzustellen – Jesu "Schafe" zu hüten –, und er hat der ganzen Gruppe durch seinen Prophetentod einen großen religiösen Kredit verschafft.

Mit diesen Argumenten nehmen wir nicht an der Authentizitätsdebatte teil, sondern kritisieren die Position, dass es zur hoheitlichen Interpretation der Figur und Wirkung Jesu keine Alternative gäbe. Ratzinger geht der Möglichkeit und den selbst vorgelegten Indizien gar nicht nach, dass Jesus die Verbreitung seiner Einsichten einfach realistisch und erfolgreich gemanagt haben könnte.

Die Authentizität von Jesus-Worten und Reden ermessen wir an ihrer Fähigkeit, den Blick auf das Dasein und das Außerweltliche zu lenken. Für diesbezüglich mangelhafte Texte scheidet Jesus als Urheber praktisch aus. Wir haben in der Bergpredigt und den Gleichnissen so viele, klare Anzeichen für seine existenzielle Kompetenz gefunden, dass nicht anzunehmen ist, dass Jesus hier noch irgendwo Fehler gemacht hätte. Was wir von unserer Kritikposition her Jesus vor allem nicht zutrauen, ist existenzielle Inkompetenz. Anscheinend Rätselhaftes von Jesus muss immer daraufhin geprüft werden, ob es nicht als annähernd zeigende Rede existenziell relevant ist. Geheimnisvoll erscheint existenzielle Rede schließlich immer, wenn einem die Sicht auf das Dasein und das Außerweltliche fremd ist.

Mit den Ausdrücken "Menschensohn", "Sohn" und "ich bin es" hat Jesus vordergründig unverfängliche Bezeichnungen und Redeformen für sich gewählt, die man nicht gegen ihn verwenden konnte, sollten sie in die Öffentlichkeit kolportiert werden. Dass er damit trotzdem immer sich Selbst als "Gottes Sohn" gemeint haben soll, macht überhaupt kein Authentizitätsproblem. Ratzinger versteht die Reden dann allerdings anders, als Jesus sie gemeint hat.

Folgen wir wieder seiner Auslegung. Als erstes zitiert Ratzinger den Satz Jesu aus seinem Prozess vor dem Hohen Rat: "Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und ihn kommen sehen auf den Wolken des Himmels" (Mk 14,62). Ratzinger erklärt, dass die Christologie der neutestamentlichen Schriftsteller, darunter auch der Evangelisten selbst, die Inhalte solcher Menschensohn-Worte Jesu übernommen, den Titel "Menschensohn" aber durch die bei ihnen gebräuchlichen Titel Messias(Christus), Kyrios (Herr), Sohn Gottes ersetzt haben. Sein Punkt ist, dass die Hoheitlichkeit nicht erst mit den christologischen Titeln hinzugefügt wurde, sondern schon von Jesus selbst reklamiert wurde.

So ist aber Jesus nicht gewesen. Wir haben oben mehrfach dargelegt, dass er den Menschen beibringen wollte, dass für sie alle Gott wie ein guter Vater ist und nicht wie ein Machthaber. Dass sie alle, wie er – Jesus – es erklärte und vormachte, diesem Vater und seiner Schöpfung gegenüber eine Daseinshaltung wie Söhne (oder Töchter) einnehmen sollten. Verkürzt und zugespitzt gesagt: dass sie alle Söhne und Töchter Gottes seien. Und warum wollte Jesus es ihnen beibringen? Weil er sich selbst in dieser Daseinshaltung wie "auf den Wolken des Himmels fühlte", wie von Gott privilegiert, und weil er meinte, dass es jedem so gehen könnte, nicht nur ihm als einzigem.

Die Inhalte der Menschensohn-Worte sind demnach von den Christologen nicht übernommen, sondern bestenfalls missverstanden worden, etwa weil die damalige Weltsicht und Erwartung auf einen einzigen, hoheitlichen Sohn Gottes fixiert war und niemand gewöhnliche Menschen als Gottessöhne und Gottestöchter denken konnte.

Der Ausdruck "zur Rechten der Macht sitzen" ist, wie Ratzinger selbst mitteilt, wieder eine Übernahme aus dem Alten Testament, Psalm 110. Da gibt es dann zwei Möglichkeiten: Entweder hat Jesus sich damit vor dem Hohen Rat gezielt als der Vorhergesagte inszeniert, um sicherzustellen, dass das Prozessthema ein religiöses bleibt. Dann wäre die Rede aber nicht unbedingt als "Lehre für jedermann" zu verstehen. Oder die Evangelisten haben Jesus mit der alten Prophezeiung in Verbindung gebracht, um an seiner Überhöhung zu bauen. Diese Doppeldeutigkeit erscheint auch in den anderen von Ratzinger herangezogenen Reden Jesu, in denen dieser vom kommenden Menschensohn redet. Auch in ihnen hat Jesus, um die Menschen besser zu erreichen, seine Worte möglicherweise Ihren Erwartungen angepasst, und die Evangelisten haben das dann wie einen Hoheitsanspruch aussehen lassen.

Was Jesus dabei selbst gemeint hat, ist gut im Gleichnis vom Weltgericht des richtenden Menschensohns zu sehen, worin er über die Menschen danach urteilt, was sie ihren hilfsbedürftigen Mitmenschen Gutes getan haben. Ratzinger selbst bezeichnet es als Gleichnis. Der Hörer oder Leser muss also von den innerweltlichen Gegenständen des Textes absehen und zu sehen versuchen, welche Aspekte seines Lebens er anzielt und erhellt. Daher kann man den Zeitpunkt des Geschehens, den Thron, die Herrlichkeit, die Völker, die Schafe und Böcke, rechts und links, gleich einmal vergessen.

Ratzinger tut das weitgehend und betont, dass "der richtende 'Menschensohn' sich … mit allen Leidenden der Welt … identifiziert, das Verhalten ihnen gegenüber als Verhalten ihm selbst gegenüber kennzeichnet. Dies ist nicht eine nachträgliche Fiktion des Weltenrichters. Er hat diese Identifikation in seinem Menschwerden bis in die letzte Konkretheit hinein vollzogen. Er ist der Besitz- und Heimatlose, der keinen Ort hat, wohin er sein Haupt legen kann (). Er ist der Gefangene, der Angeklagte, und er stirbt nackt am Kreuz. Die Identifizierung des die Welt richtenden Menschensohns mit den Leidenden aller Art setzt die Identität des Richters mit dem irdischen Jesus voraus und zeigt die innere Einheit von Kreuz und Herrlichkeit, von irdischem Dasein in Niedrigkeit und künftiger Vollmacht, die Welt zu richten. Der Menschensohn ist nur ein Einziger, Jesus. Diese Identität zeigt uns den Weg, zeigt uns den Maßstab, nach dem einmal unser Leben beurteilt wird".

Man soll sich aber nicht täuschen: Unser Leben wird unabhängig von Jesus laufend an diesem Maßstab "beurteilt", indem wir laufend die Folgen tragen. Das einzige "Künftige" daran ist, dass wir diesen "Beurteilungszustand" jetzt eventuell nicht vor Augen haben und es einer ungewissen Zukunft vorbehalten ist, ob und wann er uns in den Blick kommt.

Das Gleichnis setzt sich plastisch mit unserem "Verhalten" gegenüber den hilfsbedürftigen Mitmenschen auseinander und zählt die gleichen Beispiele sogar viermal auf, damit auch der Letzte merkt, worauf es für uns ankommt. Ratzinger dagegen sorgt sich vor allem um Zusammenhänge zwischen Identifikation und Identität: Wenn der richtende Menschensohn nicht mit Jesus identisch wäre, dann könnte er sich nicht mit den Leidenden der Welt identifizieren. So als sei Leiden Voraussetzung für Richten, und als könne sich nur der gleich oder schwerer Leidende mit anderen Leidenden identifizieren. Wie sollte es dann ein in Wohlstand Lebender schaffen? Und wenn er es schaffte: Wieso kommt er von der Identifikation dahin, dass er dem Leidenden hilft? Aus Identifikation folgt logisch nicht notwendigerweise Hilfe. Bei der Identifikation kann jemand ja auch zu dem Ergebnis kommen, Leiden sei nichts für ihn und sich wieder abwenden. Und warum soll der Menschensohn sich überhaupt erst identifizieren und nicht einfach gleich helfen? Was ist die Substanz dieser Identifikation, was ihr "Einzugsbereich": der Körper, die Seele, die individuellen Welten? Ratzinger klärt diese Probleme seiner Auslegung nicht. Er will herleiten, dass Jesus der Menschensohn ist, aber der Beweis ist nicht dicht.

Wir übernehmen also wieder die Klärung. Etwas Außerweltliches kann nicht mit etwas Innerweltlichem identisch sein, und es hat auch keinen Sinn, das Eine mit dem Anderen zu identifizieren. Existenziell ist das beste Synonym für "Menschensohn" die "göttliche Komponente des Menschen" – eigentlich: des Daseins. Diese kann nicht wie ein Objekt in die Welt "kommen", sondern sie ist sozusagen bei jedem Menschen "identisch" da und kann bestenfalls annähernd in den Blick kommen.

Wenn in diesem Sinne der "Menschensohn kommt", dann heißt das, dass wir die göttliche, außerweltliche Komponente unseres Daseins in den Blick bekommen, und zwar in einer bestimmten Sicht, nämlich der auf unser Eigentliches Selbst. Und dann sehen wir, dass die Mitmenschen dieselbe göttliche Komponente haben und überhaupt in derselben Daseinssituation sind wie wir selbst. Das sagt logisch immer noch nicht, dass wir ihnen helfen sollen oder müssen. Aber wenn wir ihnen in der Welt etwas mit dem Blick auf ihre göttliche Komponente tun, dann tun wir es im Hinblick auf Gott schlechthin, weil man dem Außerweltlichen keine Struktur zusprechen kann, und deshalb alle individuellen "Menschensohn"-Sichten auf einunddasselbe Außerweltliche gehen.

Das Gleichnis sagt implizit, dass wir den hilfsbedürftigen Mitmenschen helfen sollen, indem es uns zeigt, wie wir unser Verhalten gegen sie eigentlich selbst "beurteilen", von unserem Eigentlichen Selbst her, das uns auch mit dem Anruf unseres Gewissens in den Blick kommen kann. Wir wissen eigentlich, dass es gut ist, Leben zu mehren, und böse, Leben nicht zu mehren. In dem Maße, in dem wir versäumen, Leben zu mehren – und die Hilfsbedürftigen bieten dazu immer Gelegenheit –, sammeln wir Schuld an. Diese existenzielle Schuld belastet unser Leben und raubt uns damit Seinsmöglichkeiten, meist viel ernstlicher, als uns bewusst ist. Wenn wir uns in der Welt verlieren, können wir von alledem nichts wissen und natürlich auch nicht, wie wir von der Schuld wieder entlastet werden. Das ist die "ewige", nämlich existenzielle "Strafe".

Wenn andererseits der Menschensohn kommt, d.h. wir das Göttliche an uns in den Blick bekommen, dann verspricht uns das Gleichnis "das Reich …, das seit der Erschaffung der Welt für [uns] bestimmt ist". Dann kommt uns das Außerweltliche auch in seinen anderen Sichten in den Blick, z.B. als Schöpfer und als Eigentliches Selbst der Mitmenschen, und wir sehen die reichen Möglichkeiten, die die Welt uns bietet, unser und das Leben der Anderen zu mehren.

Wie wenig wäre einem Menschen in diesem Zusammenhang geholfen, hätte er den Beweis, dass Jesus der einzige göttliche Menschensohn sei, und dass seine Worte in den Evangelien authentisch seien! Er weiß dann immer noch nicht, was die Worte sagen. Ohne die Einsicht, dass die Worte nicht begrifflich zu verstehen sind, dass er vielmehr an den Fundamenten des eigenen Daseins nach ähnlichen "Mustern" suchen muss, läuft er immer noch ins Leere – und verpasst oder vermeidet Gott. –

Was die Jesus-Worte über sein gegenwärtiges Wirken betrifft, so können wir uns hier kurz fassen. Ratzinger erörtert das Zitat "Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat" sowie zwei Zitate aus der Geschichte von der Heilung des Gelähmten: "Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!" und "Ihr sollt aber erkennen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben". Ein weiteres Zitat erwähnt er nur: " Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann".

Letzteres liegt einfach daran, dass das Eigentliche Selbst außerweltlich ist. Die näherliegende Erklärung ist allerdings die profane: Jesus ist auf der Flucht vor der religiösen Obrigkeit.

Das erste Zitat ist ebenfalls eine Trivialität, denn von seinem Eigentlichen Selbst her ist der Mensch immer frei in seinem Willen und seinen Entscheidungen, speziell also gegenüber der Situation, dass andere Menschen Regeln, z.B. über Feiertage, aufstellen und von ihm verlangen sie einzuhalten – das Feiertagsgebot hat allerdings trotzdem einen existenziellen Sinn.

Die Vollmacht, jemand zu erklären, dass seine Schuld vergeben ist – hier etwas ungenau als Sünden bezeichnet –, hat jeder, der etwas von der Existenz versteht und von seinem Eigentlichen Selbst her leben kann. Das haben wir im Zusammenhang mit dem Vaterunser dargelegt. In dem hier vorliegenden Zitat steht auch nicht: "Ich vergebe dir deine Sünden" sondern sie "sind dir vergeben", und das ist existenziell korrekt.

Die Heilung des Gelähmten wird so erzählt, dass Jesus die Vollmacht des Menschensohns zur Sündenvergebung dadurch beweist, dass er die als schwieriger hingestellte Aufgabe der Heilung vollbringt. Ein Beweis ist aber nach dem vorigen Absatz überflüssig, und dieser Beweis ist keiner: Gezeigt wird eine Koinzidenz zwischen Jesu Auforderung und dem Aufstehen des Gelähmten. Wenn Jesus das "vollbracht" haben soll, d.h. Jesu Aufforderung kausal für die Fähigkeit des Aufstehens sein soll, dann braucht man dafür in der Welt eine nicht notwendigerweise strenge, aber im Prinzip für jeden hinreichend Kundigen akzeptable und überprüfbare Theorie, wie das funktioniert hat. "Gott hat es vollbracht" oder "Jesus hat es mit Gottes Vollmacht vollbracht" sind keine Theorien sondern nichtige Aussagen. Im Blick auf die Existenz sind nicht nur Jesu Erlebnisse, sondern es ist alles, was Menschen in der Welt begegnet, als von Gott gegeben zu sehen und keineswegs als innerweltlich vollbracht.

Ratzinger resümiert trotzdem, dass es sich hier um Vollmachtsworte handele, weil nichts anderes zu Jesu Passion hätte führen können. Das ist aber nicht zwingend. In einem Umfeld, in dem nur Gott über den Sabbat verfügen und Sünden vergeben kann, waren Jesu Sätze per se skandalös. Göttliche Vollmacht des Sprechers war zum Skandal nicht nötig, es genügte existenzielles Wissen, um die Deutungshoheit anzutasten, die die Priesterschaft über die Vollmacht Gottes beanspruchte. –

Schließlich hört Ratzinger auf die dritte Klasse der Menschensohnworte Jesu: die Leidensvorhersagen, z.B. auf die Rede: "Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele". Ratzinger bezieht sie auf die alttestamentliche Vorstellung vom leidenden Gottesknecht, verknüpft sie mit der vom Weltenrichter, und kommt so zu dem Zwischenergebnis: "Das Dienen ist die wahre Weise des Herrschens".

Bleiben wir einen Moment beim Text! Jesu Rede steht in einem Zusammenhang, in dem er zuvor seinen Jüngern sein Leiden und seine Auferstehung angekündigt hat und zwei von ihnen sich daraufhin sozusagen um die besten Positionen in seinem kommenden Reich bewerben. Jesus sagt ihnen, dass er solche Plätze nicht zu vergeben habe, und dass auch in der Welt Größe nicht, wie es in ihrem Wunsch durchscheint, an Positionen gemessen wird sondern sich im Dienen zeigt. Nach allem, was wir schon über Jesu "Strategie" erfahren haben – einschließlich seinem Plan, mit einem religiösen Prozess in den Tod zu gehen –, ist es plausibel dass er seinen Dienst darin sieht, möglichst vielen Menschen in den nachfolgenden Generationen seine erlösenden Erkenntnisse zu sichern. Allerdings ist ein Lösegeld an Gott, an den eigenen Vater, auch in einem irgendwie nur annähernden Sinn, mit Jesu Denken völlig unvereinbar.

Ratzinger findet noch viele andere Bibelstellen und Zitate, die mit Jesu Leiden und Auferstehung zu tun haben oder in Verbindung gebracht werden können, so aus dem Buch Daniel, aus den Psalmen 40 und 110, von Weish, Hampel und Schnackenburg, aus Jesaja, Paulus, und dem Johannes-Evangelium. Und so hat das Hören auf Jesus selbst schon wieder aufgehört.

Am Ende des Unterkapitels über die Menschensohn-Worte schreibt Ratzinger: "Das Wort 'Menschensohn' ist Jesus selbst reserviert geblieben, aber die neue Vision des Einsseins von Gott und Mensch, die sich darin ausdrückt, durchzieht das ganze Neue Testament und prägt es. Um diese neue, von Gott kommende Menschlichkeit geht es in der Nachfolge Jesu".

Ratzinger schreibt aktiv Mehrwert! Man hört fast Jesus selbst reden, als würde er sagen: Menschensohn-Sein ist einzigartig. Folge mir nach, bemühe Dich, Gott so in den Blick zu bekommen, wie ich ihn in den Gleichnissen gezeigt habe, übernimm meine Haltung zu Gott, wie ich sie in meinem Liebesgebot und in der Bergpredigt beschrieben habe, und mit der Zeit wirst du sehen: du und alle deine Mitmenschen sind genau so einzigartig. Ich zeige dir welch einzigartiger Gottessohn du bist. Und du erzählst es allen anderen!

Genau so und explizit kann Ratzinger das vielleicht nicht schreiben. Er kann aber sichtlich etwas schreiben, das sich so interpretieren lässt, vorausgesetzt ihm selbst kann man es nur als eindeutig christologisch gemeint zurechnen – was er ja mit seinem anfänglichen Hinweis auf die vorausgesetzte Glaubensentscheidung halbwegs sichergestellt hat.

Das existenziell problematischste Wort in Ratzingers Schlusssätzen ist das Einssein. Im folgenden Unterkapitel werden wir ausführlich darauf zurückkommen.

 

2  DER SOHN

 

Ratzinger wendet fast die Hälfte dieses Unterkapitels auf, um darzulegen, woher der Ausdruck "Sohn Gottes" kommt, wie er sich bis zu Jesus hin entwickelt hat, und was demnach alles mitschwingt, wenn der Ausdruck für Jesus gebraucht wird. Demgegenüber begegne die Bezeichnung "Sohn" ohne Zusatz im Wesentlichen nur im Munde Jesu, und zwar vor allem im Johannes-Evangelium und davon geprägten Texten.

Das als erstes behandelte Zitat endet so: "Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will". Ratzinger schließt daran eine kleine Philosophie des Kennens und Erkennens an: "Zum Erkennen gehört immer irgendwie Gleichheit. 'Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken' hat Goethe … formuliert. Jeder Prozess des Erkennens schließt immer in irgendeiner Form einen Prozess der Gleichwerdung ein, eine Art von innerem Einswerden des Erkennenden mit dem Erkannten, der je nach der Seinsstufe des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts unterschiedlich ist. Gott wirklich zu kennen, setzt Gottesgemeinschaft voraus, ja Seinseinheit mit Gott. … wird nun … deutlich, was das ist: 'der Sohn', was damit bedeutet wird: vollendete Erkenntnisgemeinschaft, die zugleich Seinsgemeinschaft ist. Die Einheit des Erkennens ist nur möglich, weil sie Einheit des Seins ist".

Gleichartigkeit von Auge und Sonne dürfte Goethe schwerlich gemeint haben, erst recht nicht Gleichheit, Seinsgemeinschaft oder gar Seinseinheit. Goethe fährt ja fort: "Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?" Das heißt: das Verstehen der göttlichen Schöpfung gehört zur gottgegebenen, existenziellen Ausstattung des Menschen. Dagegen wird sich kaum jemand in seinen Augenhöhlen "sonnenhafte" Kernfusionen vorstellen, und man wird auch nicht sein wie das Nachbarsauto, weil man es kennt und erkennen kann. Auf der Seinsstufe Gottes könnte das zugestandenermaßen anders sein: wenn man Gott kennt/erkennt, dann ist man wie Gott. Diese Rede hat existenziellen Mehrwert, allerdings sicher nicht auf der Basis falsch verstandener Gleichartigkeit.

Ratzinger schiebt unermüdlich an den Begriffen. Bei Goethe würde das Auge nach Ratzingers Verständnis die Sonne noch erblicken, weil es sonnenartig ist. Das wird verschoben zur Gleichheit, als stünde bei Goethe "sonnengleich ist", und weiter zur Gleichwerdung, als würde das Auge erst durch das Erkennen sonnenhaft oder sonnengleich. Gleichwerdung ist nicht dasselbe wie Gleichheit, und Gleichheit ist nicht dasselbe wie Gleichartigkeit. Ratzinger verschiebt aber weiter: aus Gleichwerdung wird inneres Einswerden, auf der Seinsstufe Gottes wird aus Einswerden Gottesgemeinschaft und weiter Seinseinheit. Einswerden ist nicht dasselbe wie Gleichwerdung, Gemein-schaft ist nicht Gleich-werdung, und Seins-einheit ist nicht dasselbe wie Gleich-werdung und auch nicht dasselbe wie alles andere zuvor. Wenn man in einer – auch noch falschen – Aussage ("Erkennen bedingt Gleichartigkeit") die Begriffe schrittweise immer wieder durch neue ungleiche Begriffe ersetzt, kann man doch nicht so tun, als müsse die resultierende Aussage ("Erkennenseinheit bedingt Seinseinheit") nun offensichtlich wahr sein.

Aber das Ende ist noch nicht erreicht: "Der Wille des Sohns ist eins mit dem Wollen des Vaters" und wir sollen "mit ihm, dem Sohn, ein-willigen in den Willen des Vaters und so selbst Söhne werden: in der Willenseinheit, die Erkenntniseinheit wird".

Wir halten nur wieder fest: Der Wille ist nicht dasselbe wie das Wollen; Einssein ist nicht dasselbe wie Einheit; Erkenntnis ist nicht dasselbe wie Erkennen, sondern dessen Ergebnis; Einwilligen ist nicht dasselbe wie Willenseinheit, denn im Einwilligen gibt man ja gerade seinen eigenen Willen auf.

Und das alles kritisiert ja nur erst die Qualität der Begriffe, nicht die Semantik. Aber wie gut und plausibel können dann die Vorstellungen vom Sein, Erkennen, Wollen und ihren Zusammenhängen hinter so einer Begriffsfassade überhaupt sein! Und vor allem: wie zugänglich. Ratzinger zitiert Jesu Begeisterung darüber, dass Gott "all dies den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen (Kleinen) aber offenbart" hat, und er betont das noch zweimal: nur die Einfachen erkennen den Vater, der Vater will die Einfachen.

Aber Zugänglichkeit für die Einfachen liefert Ratzinger gewiss nicht. Jeder Einfache weiß, was es heißt Vater zu sein, Sohn zu sein und was eine gute Beziehung zwischen Vater und Sohn ist. Ratzinger muss das alles umdefinieren, damit es für seine Auslegungszwecke geeignet wird. Es ist dann nicht mehr eingängig wie bei Jesus, sondern bestenfalls noch formal zugänglich, oder eben auch nicht, wie z.B. seine Ausführungen zum Einssein. Muss man es wirklich sagen?: Vater und Sohn sind zwar eventuell einmal "ein Herz und eine Seele", aber nie eins, sondern immer zwei.

Ratzinger schreibt zwar gleich anschließend: "Dies ist nun schlicht Ausdruck der konkreten Erfahrung Jesu: Nicht die Schriftkundigen, die beruflich mit Gott Beschäftigten erkennen ihn; sie bleiben im Dickicht ihrer Detailkenntnisse stecken. Der einfache Blick auf das Ganze, auf die sich offenbarende Wirklichkeit Gottes selbst, ist ihnen durch all ihr Wissen verstellt – so einfach kann es eben nicht sein für den, der so viel von der Komplexität der Probleme weiß". Aber er sieht sich selbst offenbar nicht in dieser Kategorie von Schriftkundigen. Er führt einfach weiter zum Törichtwerden, "das den Menschen für den Willen und so für die Erkenntnis Gottes öffnet". Den Schlüssel dazu sieht er in der Seligpreisung derer, die reinen Herzens sind, und verlangt schließlich "das Ablassen von der Autonomie, die sich in sich selbst verschließt", und damit das von Jesus gemeinte Kindwerden. Und dann ist Ratzinger schon beim Schluss des Sohn-Unterkapitels. Mit zwei Zitaten aus dem Johannes-Evangelium, die vom "einzigen Sohn" und vom "Einzigen[n], der Gott ist" handeln, sowie mit der Stelle im Markus-Evangelium, wo Jesus Gott mit "Abba" anredet, belegt er die "'Einzigkeit' des 'Sohnes' ", und so kulminiert das Unterkapitel am Ende in den Sätzen: "Es gibt die Originalität Jesu. Nur er ist der 'Sohn' ".

Was geht hier vor?

Zunächst zur Frage der Komplexität. Ratzinger will mit Hilfe der kanonischen Auslegung zeigen, dass der Glaubensentscheid, den die christologische Hermeneutik voraussetzt, historische Vernunft in sich trägt. Er meint, dass er mit Hilfe seiner Sicht auf die exklusive Göttlichkeit Jesu den Weg aus dem Dickicht theologischer Detailkenntnisse heraus zeigen kann und muss. Dazu betrachtet und diskutiert er für jedes einzelne Teilresultat alle relevanten Bibelstellen und ihre wichtigen Auslegungen, und setzt sie miteinander in Beziehung, was naturgemäß nicht immer einfach darzustellen ist. Daher begegnet das Buch wirklich als ein nicht enden wollendes Dickicht von Details. Der "Einfache" würde sich niemals da hinein begeben und niemals herausfinden, und für ihn schreibt Ratzinger auch nicht. Er selbst sieht sich beim Einfachen gestartet und – nach dem mühsamen Weg durch das Dickicht – am Ende wieder beim Einfachen angekommen.

Einige Sachverhalte sollten Ratzinger aber stutzig machen:

Er ist nun einmal ein Schriftkundiger und sein obiger Satz über die Schriftkundigen, wie auch Jesu Original, machen keine Ausnahme für Schriftkundige, die sich für eine bestimmte einfache Wahrheit entschieden haben.

Ein Glaubensentscheid ist mit dem "einfachen Blick" nicht vereinbar. Wenn man etwas im Blick hat, dann braucht man sich nicht zu entscheiden, ob man das, was sich zeigt, so sieht, wie es sich zeigt, sondern man sieht es eben einfach so. Wenn man sich für eine Sicht entscheidet, dann handelt es sich gewiss nicht um einen einfachen Blick.

Die Kritik Jesu an den Schriftkundigen geht wesentlich weiter als der Teilaspekt, den Ratzinger hier aufgreift. Es gibt eine lange Tirade Jesu in Jerusalem gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten und darin den Satz: "Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen".

Das ist emotional und überzogen, denn selbstverständlich kann kein Mensch dem anderen den Weg ins Himmelreich versperren. Wer will, findet hinein. Der Kerngehalt des Satzes dürfte sein, dass jemand, der andere ins Himmelreich zu führen hätte, sie stattdessen in die Irre führt, weil er selbst den Weg nicht weiß. Das wäre jemand, der "den einfachen Blick auf die sich offenbarende Wirklichkeit Gottes nicht hat" – den Blick nicht hat, der die Daseinshaltung des Menschen ausrichtet und ihn selig macht – und ihn deshalb anderen Gottsuchern auch nicht zeigen und weitergeben kann, aber trotzdem so tut als ob.

Und er hat den Blick nicht, weil der "durch Wissen verstellt" ist. Das tut jedes innerweltliche System; um darin oder ihm gegenüber verstehend handeln zu können, braucht man nämlich ein entsprechendes, meist sehr großes Wissen über seine Strukturen, Funktionen und Nutzungen. Das gilt auch für religiöse Systeme. Ein religiöses System aus Lehren, Gesetzen und Formen verstellt mit seinem Wissensgebäude allen, die sich damit befassen und solange sie sich damit befassen, den Blick auf Gott. Man kann nicht gleichzeitig Gott und dem Wissen dienen – oder dem Mammon oder jedweder anderen innerweltlichen Strebung.

Für Jesus ist das Ärgernis, dass die jüdische Geistlichkeit seiner Zeit mit dem von ihr betriebenen religiösen System sich selbst und den Gläubigen den Blick auf Gott und damit den Eingang zum Himmelreich verstellt. Jesus beschimpft sie als Heuchler, und im Thomas-Evangelium wird ihm sogar Folgendes zugeschrieben: "Wehe den Pharisäern! Sie gleichen einem Hunde, der auf der Futterkrippe für Ochsen liegt. Denn weder frisst er, noch [lässt] er die Rinder fressen." Damit hat sich Jesus einerseits wohlweislich mit der Geistlichkeit angelegt, aber es zeigt auch eine große Wut über die existenzielle Inkompetenz der religiösen Führung und die von ihr stolz gepflegte existenzielle Inkompetenz des Volkes.

Niemand wird sagen können, dass es heute besser ist. Die religiösen Systeme sind größer und komplexer als damals und verstellen den Blick umfassender und konsequenter. Speziell das Christentum hat den Blick auf Gott mit der Maske Jesu verstellt. Auch Ratzinger trägt den deprivativen Charakter dieser Lehre deutlich sichtbar mit. Zwei Mal schreibt er in diesem Unterkapitel, dass einzig Jesus der "Sohn" ist, obwohl doch diese Botschaft alle Menschen ihrer von Jesus verkündeten Gotteskindschaft beraubt. Das schreit eigentlich zum Himmel. Jesus hat damals getobt und würde heute wieder toben.

Aber er war gegenüber der Geistlichkeit auch stark voreingenommen – verständlicherweise, da sie ihm doch nach dem Leben trachtete. Aus existenzieller Sicht ist die innerweltliche Verhüllung der Existenz deprivativ, weil sie den Zugang zur Erlösung und Seligkeit verdeckt. Innerweltlich bedient sie einfach die allgemeine Nachfrage nach Gottvermeidung. Jemand etwas wegnehmen, was er von seinem Naturell her nicht will, ist nicht deprivativ. Jesus musste die Geschichte von Adam und Eva kennen, die sich vor Gott verstecken, um nicht in ihrer existenziellen Nacktheit vor ihm stehen zu müssen. Sie wollten Gott nicht sehen. Aber Jesus hat sich lange Zeit nur beklagt, dass die Zuhörer ihn nicht verstanden, statt zu sehen, dass sie ihn nicht verstehen wollten, weil die Menschen existenziell so angelegt sind.

Jesus hat sich also mit seinem Fluch gegen die Geistlichkeit auch gegen ein Existenzial gestellt. Er wollte den Menschen entgegen ihrer existenziellen Disposition den Weg zur Seligkeit zeigen, aber anscheinend hat die Bedrohung seines Lebens seine pflichtbewusste Absicht in eine wilde, nicht ganz umsichtige Entschlossenheit verwandelt – übrigens wieder ein nicht zu vernachlässigender Aspekt seiner Persönlichkeit.

Was bedeutet diese Analyse nun im Hinblick auf Ratzingers Text? Ja, Ratzinger verstellt den einfachen Blick, wie es die Christologie auch tut. Ihn, oder die Christologie, oder die organisierte Religion deshalb als deprivativ einstufen kann man auf dieser Basis jedoch nicht. Erst nachdem man die Wegnahme des einfachen Blicks auf Gott sozusagen als Überlebensfaktor organisierter Religion verstanden hat, kann man fragen, wie viel und wie gut organisierte Religion darüber hinaus trotzdem existenziellen Mehrwert transportieren kann und tatsächlich transportiert.

 

3  "ICH BIN ES"

 

Dieses letzte Unterkapitel des ersten Bandes behandelt zunächst Jesus-Worte vom Typ "Ich bin es" oder "dass ich es bin", so die Sequenz aus einem Streitgespräch: "… ich bin nicht von dieser Welt. Wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr in Euren Sünden sterben". Das ist existenziell fast eine Tautologie: Wenn man nicht sieht, dass der Mensch ein außerweltliches Eigentliches Selbst hat, dann endet man ohne Beziehung zum Außerweltlichen.

Ratzinger führt den Sinn auf die Selbstdefinition Gottes in der Szene des Mose mit dem brennenden Dornbusch zurück "Ich bin, der ich bin" sowie auf ein Zitat aus Deuterojesaja: "damit ihr erkennt und mir glaubt, dass ich es bin … Ich bin JHWH", und er erläutert, was diese Worte zu ihrer Zeit bedeuteten: "Dieser Gott ist einfach. Er stellt sich gerade als der, der ist, in seiner Einzigkeit vor … Das ist … Abgrenzung von den vielen Gottheiten, die es gab, aber vor allem … das Erscheinen seiner nicht zu beschreibenden Einzigkeit und Einzigartigkeit".

Damit geht Ratzinger einfach über den Normalsinn der Worte hinweg. Jeder Mensch ist einfach und sieht: "Ich bin". Daran ist nichts Einziges und Einzigartiges. Das wirklich Einzigartige ist, dass die alttestamentlichen Autoren die Rede "Ich bin", die auf jeden Menschen zutrifft, für eine Bestimmung Gottes benutzen. Jeder kennt von sich selbst her das Sein des Menschen. Aber diese Autoren sagen dazu etwas Besonderes: Gott ist das "Ich bin", das Sein des Menschen. Und das heißt umgekehrt: das Sein des Menschen ist nicht nur in der Welt, wie es alle Menschen kennen, sondern es ist darüber hinaus sogar möglich, das Außerweltliche am Menschen zu sehen. Die Autoren müssen es jedenfalls irgendwie gesehen haben, sonst hätten sie nicht über die innerweltliche Sicht des Menschseins hinausgehen können.

Wie nunmehr schon zu erwarten, beschränkt Ratzinger diese allgemeine Seinsstruktur des Menschen ausschließlich auf Jesus: "weil er der Sohn ist, darf er die Selbstvorstellung des Vaters in den Mund nehmen".

Darüber hinaus behauptet Ratzinger, "dass Jesus ganz 'relational' in seinem ganzen Sein nichts als Beziehung zum Vater ist. Aus dieser Relationalität heraus ist der Gebrauch der Dornbusch- und Jesaja-Formel zu verstehen; das 'Ich bin' steht ganz in der Relationalität zwischen Vater und Sohn". Es scheint, als sehe Ratzinger seine bisherigen Umschreibungen des Einsseins noch nicht als erschöpfend an und ergänze sie hier um die Beziehungshaftigkeit. Uns interessiert aber vor allem die Behauptung, Jesu Sein sei "nichts als Beziehung zum Vater". Der Mensch findet sich ja in der Welt vor und kann sich, solange er lebt, nicht dauerhaft aus der Welt herauslösen und dann nur noch seine Bindung an Gott sein. Man kann sich nicht gleichzeitig auf Gott und auf die Welt konzentrieren, sondern nur, wie es das Dritte Gebot nahelegt, zwischendurch beten und damit aus der Welt auftauchen, die Bindung an Gott auffrischen, und sich damit wieder auf die Welt einlassen. Die Behauptung, Jesus sei nur Beziehung zu Gott gewesen, würde also heißen: Jesus wäre nicht in der Welt, also kein Mensch gewesen. Aber das will Ratzinger ja gewiss nicht sagen. –

Als nächste Selbstidentifizierung Jesu behandelt Ratzinger die Rede: "Wenn ihr den Menschensohn erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin".

Das zeigt existenziell darauf, dass man das Göttliche an Jesus erst erkennt, sobald man das Göttliche an sich selbst in den Blick bekommt.

Ratzinger liest "erhöht" als "gekreuzigt": "Das Kreuz ist die wahre Höhe ... am Kreuz ist Jesus auf der 'Höhe' Gottes, der die Liebe ist. Dort kann man ihn 'erkennen', kann erkennen, dass 'ich es bin' ". Das ist zunächst einmal nicht mehr als ein Wortspiel, noch dazu ein unzeitgemäßes, denn heutzutage kann man ja kaum hoffen, mit dem Wort "Höhe" Gott noch in den Blick zu bringen. Ratzinger meint mit der Höhe des Kreuzes nicht "ein paar Meter über dem Boden" sondern eine Höhe in einem anderen, übertragenen Sinn, die er aber nicht erklärt und deren Erklärung wir auch nicht statt seiner liefern können.

Ohnehin folgt gleich das nächste Wortspiel: "Der brennende Dornbusch ist das Kreuz. Der höchste Offenbarungsanspruch, das 'Ich bin es' und das Kreuz Jesu sind untrennbar. Hier finden wir nicht metaphysische Spekulation, sondern hier zeigt sich Gottes Realität mitten in der Geschichte, für uns". – Bloß, weil zwei Autoren dieselbe Rede "Ich bin (es)" mit zwei verschiedenen Bildern verbinden, sind die Bilder noch längst nicht dieselben, und es ist auch nicht zu sehen, was gewonnen wäre, wenn sie dieselben wären.

Wenn es darum geht, dass sich in der Dornbuschszene des Mose und in der Kreuzigung Gott und seine Liebe offenbaren, dann gibt es interessante Fragen, die sich anschließen, und Ratzinger hat auch Antworten dafür: In welcherart Situationen "offenbart" sich Gott überhaupt? – "immer wieder in der Geschichte" und "vollends am Ende der Geschichte"; wie ist es, wenn Gott sich offenbart? – man wird "mitten ins Herz getroffen"; was ist der Inhalt der jeweiligen Offenbarung? – man sieht, dass Jesus Gott ist und erkennt seine Liebe; warum ist die eine Offenbarung finaler als die andere? – Jesus allein ist eins mit Gott.

Aber was sollen dann die schriftstellerischen "Störimpulse" vom Kreuz auf der Höhe Gottes und vom Dornbusch als Kreuz? Sie veranlassen einen jedenfalls näher hinzusehen. Und da findet sich weiteres Bemerkenswertes: Ratzinger schreibt nicht "Offenbarung" sondern Offenbarungsanspruch. Will er dem Leser suggerieren, dass die Erfüllung des Anspruchs offen ist und er selbst damit nichts zu tun hat? Und die Rede von "Gottes Realität in der Geschichte": Ist Gott bei Ratzinger nicht "metaphysisch", nämlich außerweltlich, und ist es keine Spekulation, dass das Außerweltliche einzelne Züge der Realität spezialbehandelt? Dadurch, dass man einen Glaubensentscheid trifft, wird aus Spekulation nicht Realität, und aus Außerweltlichem nicht Innerweltliches.

Ratzinger schreibt hier wie an anderen Stellen durchaus einmal aus einer fast reporterhaften Distanz, so als berichte er nur sachlich, wobei seine eigene Position keine Rolle spiele. Am auffälligsten ist uns das ja schon im Vorwort begegnet, wo er einiges Persönliche in Ich-Form darstellt, aber ausgerechnet von dem auch für sein Buch entscheidenden Glaubensentscheid nur unpersönlich schreibt, dass er Voraussetzung für die christologische Hermeneutik sei. Als würde er diese Voraussetzung nur referieren.

Mit dem dritten reinen "Ich-bin"-Wort, dessen Ratzinger sich annimmt, relativiert Jesus die jüdische Position der Abstammung von Abraham auf seine eigene Abstammung von Gott um: "Noch ehe Abraham wurde, bin ich". Aus der Sicht unserer Kritikposition bedeutet dies, dass die göttliche Komponente unseres Daseins zeitlos ist. Das sagt Ratzinger – mit Zitaten von Schnackenburg und Barrett – der Struktur nach auch so, nämlich: "dass es sich hier nicht nur um eine Zeitkategorie handelt, sondern 'um einen fundamentalen Seinsunterschied ... der Anspruch Jesu auf eine ganz einmalige, menschliche Kategorien überschreitende Seinsweise' ist klar formuliert". Ratzinger schreibt, dass Schnackenburg schreibt, dass die Johannes-Schule klar formuliert, was Johannes gemeint hat, dass Jesus beansprucht hat. Mehr kann man sich persönlich kaum heraushalten. Und das Wort "einmalig" lässt immer jede – ggf. auch negative – Interpretation zu. Hier kann es bedeuten, (1) dass Jesus als Einziger diese Seinsweise beanspruchte, (2) dass er sie exklusiv für sich beanspruchte, (3) dass es unter den innerweltliche Kategorien überschreitenden Seinsweisen eine oder mehrere gibt, die in irgendeiner Weise einmalig sind, und Jesus eine davon für sich beanspruchte, oder (4) dass es nur eine, innerweltliche Kategorien überschreitende Seinsweise gibt: die vom außerweltlichen Gott her. – Wenn diese Schreibtechnik einen Sinn hat, dann den, dass der Leser verstehen darf, was er will, nur den Autor nicht darauf festlegen. –

Nicht zuletzt legt Ratzinger das Jesus-Wort aus, mit dem dieser den bootfahrenden Jüngern im Sturm über das Wasser entgegenkommt: "Habt Mut! Ich bin's. Fürchtet euch nicht!" Die nächstliegende Bedeutung, dass Jesus sich wegen der schlechten Sicht und der unwahrscheinlichen Situation praktischerweise zu erkennen gibt, geht für Ratzinger nicht auf. Denn als Jesus das Boot besteigt, tritt auch noch plötzlich Windstille ein. Die Jünger überfällt – wie schon Petrus nach dem reichen Fischfang – der (von Ratzinger in Anführungszeichen gesetzte) "Gottesschrecken": "Denn Gehen über die Wasser ist Gottes Sache" und "ebenso ist die Stillung des Sturms ein Vorgang, der über die Grenzen des menschlichen Vermögens hinausgeht und auf Gottes eigene Macht verweist". Und so führt Ratzinger auf das Ergebnis hin, dass "Ich bin's" hier "Ich bin Gottes Sohn" bedeutet: "Kein Zweifel ..., dass die ganze Begebenheit als ... Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis Jesu dasteht".

Es ist nicht so, dass Ratzinger hierzu der Meinung sein müsste, dass Gehen über Wasser oder Stillung des Sturms "Gottes Sache" sei. Er schreibt das alles so, dass es als Sicht der Jünger zu verstehen ist, und er schreibt insbesondere auch nicht, wer denn nun keinen Zweifel hat oder hatte.

Kein Zweifel sollte jedenfalls über Folgendes bestehen: Gehen über Wasser und Stillung von Stürmen ist nicht mehr oder weniger Gottes Sache als jedes andere Phänomen, das uns in der Welt begegnet. Gehen über Wasser ist aber vor allem eine Charakteristik unseres Seins in der Welt: Wir verlassen uns immer darauf, dass der nächste Schritt trägt. Dass etwas Faktisches über die Grenzen menschlichen Vermögens hinausgeht, verweist allenfalls auf die Grenzen menschlicher Welterschließung. Aussagen über Verbindungen zwischen Sachen und Fakten einerseits und Gott andererseits sind immer nur nichtig.

Und wir merken an, dass es so etwas wie einen echten Gottesschrecken eigentlich nicht geben kann. Die Menschen scheuen Gott zwar von Ferne. Aber Jesus und die Engel, d.h. das Eigentliche Selbst, sagen den Menschen bei allen Gelegenheiten von Gottesnähe als erstes: "Fürchtet Euch nicht!", und zwar nicht beschwichtigend, sondern weil auch die Furcht vor dem Außerweltlichen nichtig ist.

Als letztes geht Ratzinger auf die Jesus-Worte ein, in denen die Aussage "ich bin" jeweils um ein Bildwort erweitert ist: "Ich bin das Brot des Lebens", "Ich bin das Licht der Welt", u.a.m. Diese Bildworte variieren sämtlich das Thema "Fülle des Lebens", was Ratzinger wiederum in der zweiten Vaterunser-Bitte zusammengefasst sieht: Dein Reich komme. Ratzinger schreibt:

"Das 'Reich Gottes' ist das Leben in Fülle – gerade weil es nicht nur privates 'Glück', individuelle Freude ist, sondern die zu ihrer rechten Gestalt gekommene Welt, die Einheit von Gott und Welt. Der Mensch braucht letztlich nur eines, in dem alles enthalten ist; aber er muss durch seine vordergründigen Wünsche und Sehnsüchte hindurch erst erkennen lernen, was er wirklich braucht und was er wirklich will. Er braucht Gott. Und so können wir nun sehen, dass hinter den Bildreden letztlich dies steht: Jesus gibt uns das 'Leben', weil er uns Gott gibt. Er kann ihn uns geben, weil er eins ist mit Gott. Weil er der Sohn ist. Er selbst ist die Gabe – er ist 'das Leben' ".

Wir zitieren diesen Text hier unkommentiert als existenziell recht gut zeigende Schlussrede.

Ratzingers Buch endet aber noch nicht ganz damit, denn er muss natürlich noch das aktuelle Kapitel über die Selbstbezeichnungen Jesu zusammenfassen: Alle drei Worte: Menschensohn, Sohn, Ich bin es seien tief im Alten Testament verwurzelt, erhielten aber erst in Jesus ihren vollen Sinn. Sie seien nur in seinem Mund möglich und konnten deshalb nicht Bekenntnisworte der sich bildenden Kirche werden, die statt ihrer nun von "Gottes Sohn" redet, der mit Gott "gleichwesentlich" sei. "Im Bekenntnis von Nizäa sagt die Kirche immer neu mit Petrus zu Jesus: 'Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes' ".

So endet das Buch mit einem kurzen Bericht. In der Leuchtkraft der vorangehenden existenziellen Rede über das Leben in Fülle geht er geradezu unter.

 

 


 

ZUSAMMENFASSUNG DER KRITIK

 

Die Ausbeute an "Mehrwert"

 

Wir haben in Ratzingers Jesus-Buch nach Mehrwert in den "Menschenworten" gesucht, d.h. nach allem, was uns die "Menschenworte" in Ratzingers Buch über ihren Aussagewert hinaus hinsichtlich der außerweltlichen Verwurzelung – der "Religion" – unseres Daseins in den Blick bringen. Und obwohl sich Ratzinger durchgängig bis zu den Ergebnissen hin, entschieden in der Welt der Aussagen hält, sind wir an vielen Stellen fündig geworden.

Ganz am Anfang und ganz am Ende und dazwischen im Schnitt alle 50 Seiten hat er "astreine" Texte, die gut bis perfekt auf außerweltliche Daseinsaspekte zeigen, etwa,

-         dass Jesus nachzufolgen eine Art Einssein von Gott und Mensch bringt,

-         dass Jesus den Menschen Gott ins Blickfeld gebracht hat,

-         dass das den Menschen ausrichtet,

-         dass diese Ausrichtung dem Menschen den Frieden mit der Welt und das Leben in Fülle bringt.

-         Ja, Ratzinger sagt sogar selbst, dass man Gott nicht finden kann, wenn man ihn zum Objekt zu machen versucht.

Weiterhin haben wir eine ganze Menge von christologisch verhülltem Mehrwert gefunden, Stellen, die exklusiv auf Jesus gemünzt sind, die man aber auf alle Menschen verallgemeinern kann:

-         im Beten bekommen wir in den Blick, dass unser Eigentliches Selbst göttlich ist,

-         wir ertragen alle Schuld unserer Welt,

-         wir haben das Urvertrauen, dass wir mit jedem Schritt ins Neue nur in die gütigen Hände des Vaters fallen können,

-         unser Eigentliches Selbst erschließt uns das Reich Gottes,

-         unser Eigentliches Selbst ist für uns wie der Barmherzige Samariter,

-         unser Eigentliches Selbst ist nicht bloß ein Zeichen Gottes sondern ist die Sohn-Sicht auf Gott,

-         alle Menschen verfügen über das göttliche Ich-bin,

-         das Eigentliche Selbst ist "Menschensohn" und Weltenrichter.

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, sei noch einmal festgehalten: die vorangehenden Aufzählungen sind annähernd zeigende Rede. Sie zählen Sichten auf, die Ratzinger nicht unbedingt in seine Aussagen hineingesteckt hat, aber sie können seinen Aussagen weder widersprechen noch sie missbrauchen. Aussagen stehen hier gar nicht zur Debatte, sondern existenzieller Mehrwert, den die Wortfolgen der Aussagen, als annähernd zeigende Rede genommen, in den Blick bringen. Das ist bildartiges Material, und da darf man ein Negativ in ein Positiv umwandeln, um den Inhalt besser zu erkennen, und man darf auf die Aussage hin, das Gold sei nicht zwischen den zwei Bäumen hinter dem Haus vergraben, versuchsweise der gegenteiligen Aussage nachgehen. Man kann daher durchaus zu Recht sagen, dass Ratzingers Aussagen die obigen, höchst wertvollen Sichten auf das Dasein in den Blick transportieren. Und es sind eine ganze Menge.

Man kann andererseits nicht sagen, dass hinter diesen Sichten ein komplettes Bild unseres Daseins steht. Dafür verpasst Ratzingers Buch zu viele entscheidende Aspekte, auf die ihn seine Texte und Argumente durchaus hinführen:

-         die ganze existenzielle Relevanz der Schöpfungsgeschichte, die volle Gottesebenbildlichkeit des Menschen und das menschliche Ich-bin Gottes,

-         dass unser Dasein auf die Mehrung des Lebens angelegt ist,

-         dass die Zehn Gebote unser Dasein umschreiben und nicht bloß eine Liste von Imperativen meint,

-         dass die Bergpredigt keine Ethik propagiert, sondern eine Haltung.

-         Er sieht nicht die Dimensionalität des Daseins (in dieser Kritik nicht näher behandelt),

-         er sieht nicht, wie das Wort Gottes unser Leben ausmacht,

-         er sieht nicht, wie Gott uns coacht,

-         er zeigt nur ein ansatzweises Verständnis von Seligkeit,

-         er kann den Reichtum des Reiches Gottes nicht erklären, und

-         er sieht nicht, dass unsere Schuld je schon vergeben ist.

Darüber hinaus enthält Ratzingers Buch echte Existenzial-Fehler:

-         Es macht Aussagen über das Außerweltliche, über seine Taten von Amtseinsetzung bis Vollmachterteilung, von Schuldenrechnung und Sühnesystem bis zur Vollbringung von Wundern, und über seine Realität in der Geschichte.

-         Das Außerweltliche hat Attribute: groß, hoch und tief, und es hat Strukturen: Gott hat einen einzigen Sohn und führt eine Art Hades.

-         Die die Einzigkeit Gottes wird als eine Abgrenzung gegen den Polytheismus positioniert, obwohl das nicht mehr ist als gegen viele fiktive Götter einen einzigen Gott auf gleicher Ebene zu stellen.

-         Das Streben in der Welt wird als Fehlorientierung dargestellt.

Diese letzteren Fehler sind nichts Besonderes angesichts der weltweit zu allen Zeiten üblichen Verletzungen des Zweiten Gebots. Die entsprechenden Inhalte sind nichtig und entsprechend ungeeignet, irgendeine argumentative Ableitung zu tragen.

Insgesamt fehlt hier viel an einer richtigen und umfassenden Daseinssicht. Das liegt vor allem an der Fixierung auf Aussagen.

Umso beachtlicher ist es, dass in einem solchen Kontext trotzdem, wie oben gezeigt, eine relativ große Menge an treffenden Daseinssichten zu Tage tritt. Sie sind Ratzinger gegeben, und aufgrund seiner überaus freien Schreibposition kann er sie äußern.

 

Die Zwiespältigkeit der Christologie

 

Das obige Profil an treffenden, negierten, versäumten und falschen Sichten auf unsere Existenz ist das Ergebnis einer christologisch vorgepolten Auslegung der ihrerseits christologisch durchwirkten Evangelien. Insofern kann man es als einigermaßen christologietypisch ansehen.

Die Evangelientexte stellen nicht einfach souverän einen kohärenten Stoff dar, sondern sie zeigen Sprünge und Brüche, disqualifizieren und verunsichern den eigenen Inhalt, scheinbar unauffällig, aber für den existenziell wissenden Leser doch höchst auffällig und immer so, dass existenziell Falsches korrigiert oder relativiert wird. Ratzingers Buch enthält genügend Information für die Diagnose: Jesus war eine existenziell außerordentlich kompetente Quelle, und die Evangelisten, die ihn verstanden hatten, standen vor dem gleichen Problem wie er selbst, nämlich: seine offensichtlich schwer vermittelbare, und politisch tödliche Lehre in unanstößige, "überlebensfähige" Texte zu fassen. Das haben sie mit großem Geschick geleistet.

Die Christologie war das breitenwirksamste Konzept dafür: man kann alle Seinswahrheiten des Menschen unanstößig darstellen, wenn man sie posthum nur einer einzigen, idealisierten, göttlichen Ausnahmegestalt zuschreibt. Dieses Konzept hat tatsächlich wichtige Teile von Jesu Existenzlehre durch alle Anfechtungen von zwei Jahrtausenden hindurch präsent gehalten, wenn auch so wirksam getarnt, dass kaum jemand hinter der Tarnung den Zugang zu dieser Lehre findet, wenn er nicht vorher schon kundig ist.

Die Christologie enthält dadurch den Menschen die Existenzlehre Jesu vor, zwar nicht prinzipiell aber doch effektiv, und sie trägt ihren Teil dazu bei, dass die Menschen den Weg zu Gott nicht finden und nicht finden wollen. Den größeren Anteil hat allerdings die inhärent menschliche Kultur der Gottvermeidung, in der vor allem solche Religion nachgefragt wird, bei der man sicher sein kann, dass sie einen nicht der direkten Konfrontation mit Gott aussetzt.

Jesu Auftrag war ein anderer: den Menschen die existenzielle Wahrheit zu bringen und ihnen die Furcht davor zu nehmen. Wie wir an dem obigen Profil gesehen haben, leistet die Christologie dies in gewissem Umfang, aber sozusagen nur als schwer zugängliches Nebenprodukt. Jesu Vorstellung war eine Kultur der Gottverbundenheit, in der die Menschen einander Gott in den Blick bringen.

Die Christologie macht jeden Anspruch auf solch eine Kultur der Gottverbundenheit zunichte, denn die Christologie baut auf nichtigen Aussagen über Gott auf und produziert ebenso nichtige Aussagen. Die schlimmsten Folgen sind, dass den Menschen die Sichten auf ihre Gottesebenbildlichkeit, auf den Sinn ihres Lebens, nämlich Leben zu mehren, und auf die Seligkeit schon gar nicht erst angeboten werden.

 

Das Persönlichkeitsbild Jesu

 

Eine Folge der Christologie sei hier noch gestreift: um der Überhöhung willen möchte Ratzinger Jesus so darstellen, dass durch ihn Gott und von Gott her das Bild des rechten Menschen sichtbar würde. Was er dann dazu bringt, ist Einssein mit Gott und als deren Folgen: Hoheitlichkeit, Vollmachten, Sündenfreiheit, Offenbarungsanspruch u.a.m., dabei auch vorbildliche Ethik mit Demut, Identifikation mit den Hilfsbedürftigen, Dienen, Liebe – allerdings "über unseren Psychologien". Ratzinger verpasst dabei alles, was einen wirklich gottverbundenen Menschen, d.h. einen Menschen mit umfassender existenzieller Sicht – und nur so einen Menschen – charakterisiert: das Wissen um die Pflicht, seine Sicht allen Menschen weiterzugeben; die Erwartung, dass der Inhalt für sich spricht; das Unverständnis der Adressaten bis hin zur Angst und Feindschaft; die Überlegungen, wie dem beizukommen ist und wie man die Einsichten gegen allen Widerstand auch den zukünftigen Generationen sichern kann; der Einsatz des Lebens dafür; das Problem der Gefährdung der Anhänger, das Problem der Kontrolle über den Ablauf; die Wut auf die offizielle Religion; die Hoffnung, die Menschen ändern zu können. Ratzinger legt alle entsprechenden Indizien in diesem Zusammenhang selber vor und geht ihnen doch nicht nach.

 

Ratzingers Schreibposition

 

Anders als die Schreibposition der Evangelisten ist Ratzingers Schreibposition komfortabel. Seine Basis ist nicht die entsetzliche Lehre Jesu, sondern die entschärfte Darstellung der Evangelisten; er steht nicht unter dem existenziellen Druck einer ihm nach dem Leben trachtenden Geistlichkeit; er kann seine Ausführungen formal von jeder Bewertung als amtlich freihalten; das Unverständnis der Welt gegenüber seinen Einsichten muss ihm nicht mehr schlaflose Nächte machen als jedem anderen wissenschaftlichen Spezialisten; er hat ein großes Ansehen und kann sicher sein, dass seine Arbeit theologisch Anerkennung findet.

Und so kann er viel freier schreiben als alle Evangelisten zusammen. Er kann eine wilde Begriffsschieberei vorführen: vom Erkennen über Gleichartigkeit und Seinseinheit bis zur Willenseinheit suggerieren, das sei alles geradezu dasselbe. – Er kann Jesus als Zeichen Gottes für die Welt darstellen und ebenso behaupten, höhere Wahrheiten seien nicht empirisch zugänglich. – Er kann behaupten, man dürfe Gott nicht zum Objekt machen, und es dann das ganze Buch hindurch tun. – Er kann ein von Wundern motiviertes Petrus-Bekenntnis bedenkenlos akzeptieren und daneben berichten, dass Jesus derlei als Fehlorientierung beklagt. – Er kann behaupten, Identifikation sei Voraussetzung für Helfen. – Er kann distanziert von Jesu Anspruch schreiben, die Erfülltheit aber offen lassen, indem er sie nicht erwähnt. – Er kann distanziert, gleichsam wissenschaftlich schreiben, z.B. dass die Christologie einen Glaubensentscheid voraussetzt, und dabei so tun, als ob das hieße, dass er, Ratzinger, diesen Entscheid für sich getroffen habe, und dass jeder den Rest des Buches nun für überzeugt christologisch halten müsse. Und dann kann er Texte schreiben, die sowohl christologisch als auch existenziell recht verstanden werden können, z.B. Sätze über den unverstellten Blick auf Gott, in denen Jesus nicht vorkommt; und dabei kann er trotzdem darauf setzen, dass jeder ihm diese Sätze als christologisch abnimmt. –

Wenn Ratzinger das alles kann, dann kann er letztlich schreiben, was und wie er will. Welche Freiheit er sich an welcher Stelle tatsächlich nimmt, weiß dann auch nur er selbst. Der Leser ist ebenso frei zu verstehen, wie er will. Wer sich an Ratzingers Rede begeistern möchte, wer ihn wissenschaftlich kritisieren will, wer sich an ihm reiben und stoßen will, dem bietet Ratzinger viel Material. Aber wer darin den möglichen Mehrwert existenzieller Einsichten erkennen will, der muss ihn schon selbst mitbringen.

 

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